Kapitel 30

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Sterben. Wie fühlt sich das an? Nun, das zu beschreiben ist schwer. Es gibt viele Dinge, die mit einem passieren, wenn man stirbt. Es gibt viele Dinge, die man fühlt. Viele Dinge, die sich um einen herum ereignen. Auch Sterben ist mit einer gewissen Anstrengung verbunden. Aber dennoch ist es so viel leichter als leben.

Es fühlte sich an, als würde ich schweben. Wo genau, wusste ich nicht. Ich konnte nichts sehen. Meine Augen nicht öffnen. Um mich herum war alles schwarz. Schlichte Dunkelheit. Überall. Ein Ende war nirgends zu sehen. Kein Boden, keine Decke, keine Wände. Wie ein weiter Ozean aus tiefster Schwärze. Und genau so wie um mich herum Leere herrschte, so befand sich diese auch im Inneren meines Körpers. Ich hatte kein Gefühl in irgendeiner Zelle meines Körpers. Ich spürte meine Hände nicht, meine Beine und auch kein anderes Körperteil mehr. Alles war taub und schien überhaupt nicht mehr präsent zu sein. Nicht einmal klare Gedanken konnte ich fassen.
Als ich schon eine ganze Weile im dunklen Nichts herumgeirrt war, wurde irgendwo ganz weit weg in der Ferne ein kleiner gilblicher Punkt sichtbar. Er wurde ein wenig größer und schließlich sah es aus, wie das Ende eines Tunnels. Was sollte das sein? War das tatsächlich eine Art Ausgang? Und wenn ja, wohin würde mich dieser Ausgang dann bringen?
Ich kam dem Punkt näher. Er wurde größer und als er eine bestimmte Größe erreicht hatte, erkannte ich, dass es nicht einfach nur das Ende von Dunkelheit war, sondern ein Licht. Und ich bewegte mich direkt darauf zu. Immer weiter und weiter. Ich tat es nicht aus eigener Kraft, irgendetwas trug mich voran und leitete mich auf das Licht zu, welches offenbar eine Art Ziel darstellte, das es zu erreichen galt.
Je näher ich dem Lichtstrahl kam, desto heller wurde er. Er wuchs und wuchs und blendete mich immer und immer mehr. Schließlich hatte es eine so enorme Größe erreicht, dass es sich über mein komplettes Sichtfeld erstreckte. Dort, wo zuvor das Schwarz getrohnt hatte, befand sich nun blendend helles Licht. Ganz außen an den Rändern waren noch Überreste des Schwarzes zu sehen. Und dann waren sie weg. Ein heller Lichtblitz schoss mir entgegen, blendete mich und nahm mir auch den letzten Rest, den ich von meinem Sehvermögen noch behalten hatte.

Einen Moment lang konnte ich gar nichts sehen, blendende Flecken tanzten vor mir. Dann wurden sie lansam wieder kleiner, bis sie vollständig verschwanden. Meine Sicht wurde wieder klar und ich spürte etwas unter mir. Fester Boden. Ich versuchte, zu blinzeln. Es gelang mir. Meine Augen öffneten sich langsam und ich sah ins Weiße. Alles war weiß. Ich bewegte langsam meine Finger. Es funktionierte. Mein Körper richtete sich auf. Langsam. So weit, dass ich auf den Knien am Boden saß. Alles Schwarze hatte sich durch Weiß ersetzt. Aber was war das hier? Wo war ich und was sollte ich hier?
"Milena."
Ich riss den Kopf hoch und sah mich um. Die Stimme, die meinen Namen gesprochen hatte, würde ich überall unter hunderten anderer Stimmen erkennen. Nur konnte ich ihren Besitzer nicht sehen, wohin ich auch schaute. "Mum...?" hauchte ich leise.
"Ja, Liebling."
Ich sah wieder vor mich und mir wäre beinahe alles aus dem Gesicht gefallen, als ich sah, wer da vor mir stand. Mir blieb die Luft weg, als ein heiseres Schluchzen aus meiner Kehle drang. "Mum!"
Die Frau vor mir lächelte. Sie trug eine rötliche Bluse und dunkle Jeans. Ihre blonden Locken umspielten ihr Gesicht und fielen ihr ein Stück weit über die Schultern. Sie sah genau so aus wie immer. Gesund und glücklich. Rosige Wangen, strahlende Augen und ein stolzes Lächeln. Sie streckte ihre Hand nach mir aus und ihre Fingerspitzen strichen über meine Wange. "Meine Kleine."
Ich lächelte und presste die Lippen so fest aufeinander, um das Schluchzen zu vermeiden, dass mir der Mund wehtat. Ich war so unglaublich froh, sie zu sehen. Seit Wochen hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als sie wieder zu sehen und wieder bei ihr sein zu können. Und jetzt endlich hatte man Erbarmen mit mir gehabt und es zugelassen. Ich war bei ihr.

Ihre Hand verließ meine Wange und ihr Blick wurde etwas ernster. "Wir haben nicht viel Zeit."
Ich blinzelte verwirrt und wollte Luft holen, um zu fragen, wovon sie sprach, doch dazu kam ich nicht.
Sie kniete sich vor mich und sah mir in die Augen. "Milena, hör mir jetzt gut zu. Es ist sehr wichtig, ich werde dir alles sagen, was ich weiß."
Mir blieb weder Zeit, um zu nicken, noch den Kopf zu schütteln, denn sie atmete tief ein und begann dann zu erzählen.
"Dein Vater hat seine Arbeit still gelegt, als klar war, dass ich mit dir schwanger war. Die Forschungen an den Steinen waren damals noch im Anfangsstadium und er brannte darauf, zu erfahren, was sie da gefunden hatten. Trotzdem hat er alles stehen und liegen lassen und ist rund um die Uhr bei mir gewesen. Zwei Tage vor deiner Geburt wurde das Quartier seiner Wissenschaftler jedoch angegriffen. Eine Gruppe hat versucht, ins Labor einzubrechen und die Steine zu stehlen. Glücklicherweise waren die Angestellten schnell genug, um Schlimmstes zu vermeiden. Ein Großteil der Angreifer entkam, aber einer von ihnen konnte festgehalten werden. Nachdem man ihn lang genug verhört hat, hat er zugegeben, dass ihr Angriff auf einem Auftrag basierte. Er erzählte über den Zusammenschluss einzelner kleiner Gruppen, die Interesse an den Steinen hatten. Anfangs konkurrierten sie alle miteinander, aber sie standen sich bei Angriffen gegenseitig im Weg, also trafen sich die Vorsitzenden der Truppen und bildeten eine Allianz. So entstand eine Organisation, die gezielt gegen die deines Vaters arbeitet. Da sich einige kleinere Gruppen zusammen geschlossen hatten, gab es mehrere Vorsitzende und sie mussten eine Wahl veranstalten, um einen Anführer zu wählen. Leider wurde bei diesen Wahlen ein Mann zum Anführer, der nach den Fehlschlägen der Einbrüche nicht länger gezielt auf die Steine anging, sondern auf deinen Vater. Er machte es sich zur Aufgabe, ihm zu schaden. Und als dein Vater davon erfuhr, fasste er den Entschluss, uns zu verlassen. Er kaufte unser Haus und leitete alles in die Wege, damit wir dort einziehen konnten. Er selbst blieb im Hauptquartier. Telefonieren taten wir nur durch das gesicherte System seiner Wissenschaftler und die Geschenke und Briefe, die ich von ihm bekam, ließ er von seinen Agenten persönlich liefern, um durch eine Sendung mit der Post keine Aufmerksamkeit zu erlangen und zu vermeiden, dass jemand die Strecke zurück verfolgte und uns ausfindig machte. Irgendwann hörten die Telefonate jedoch auf, da die Labore immer mehr in Anspruch genommen wurden, um die Forschungen fortzusetzen. Also beschränkte er sich auf das Korrespondieren.
Dass es um eine so große Sache geht und er weg bleiben musste, um uns nicht in Gefahr zu bringen, solltest du nie erfahren. Du solltest glauben, dass wir uns getrennt haben und die Briefe und Geschenke, die er schickte, nur eine kleine Aufmerksamkeit war. Du solltest aufwachsen wie jedes andere Kind auch, du solltest zur Schule gehen, draußen spielen und das Haus verlassen, ohne dass du dich fürchten musstest und ohne dass wir Angst haben mussten, dass dir etwas zustößt. Genau so wollten wir es haben.
Die Organisation begriff jedoch mit der Zeit, dass man deinem Vater nur dann gezielt und schwerwiegend schaden konnte, wenn man ihm nahm, was ihm am Herzen lag. Das Gebäude, in der sich das Hauptquartier befindet, ist eine Festung, es wäre für die Soldaten unmöglich, dort etwas auszurichten, deswegen fielen Angriffe auf seine Leute oder das Gebäude aus dem Kreis der Möglichkeit raus. Sie mussten nach Alternativen suchen und eine Spur dafür bekamen sie, als einer ihrer Spione feststellte, dass dein Vater einen Ehering trug. So kamen sie der Tatsache auf die Schliche, dass er Familie hatte und ihr Anführer setzte seine Leute darauf an, herauszufinden, wer sich in dieser Familie befand und wo besagte Leute zu finden waren. Der Sitz der anderen Organisation ist wesentlich kleiner und für Labore innerhalb des Anwesens ist nicht genügend Platz. Die Labore befinden sich weiter abseits versteckt an einem unbewohnten Ort. Als die Männer deines Vaters vom Plan ihrer Gegner erfuhren, machte sich eine Truppe mobil und suchte nach dem Labor. Sie konnten es nach drei Tagen ausfindig machen, stürmten es und vernichteten es bis in den kleinsten Chip. Wo sich das Labor nun befindet, weiß niemand, der Neubau ist an einem Ort errichtet worden, den bis jetzt niemand finden konnte. Trotzdem war klar, dass der Neubau einige Zeit in Anspruch nehmen würde und dein Vater ging davon aus, dass ihnen eine Ortung vorerst unmöglich war. Ohne die nötigen Geräte konnten sie die Systeme nicht nach uns durchsuchen, also konnte mit dem nächsten Versuch frühestens nach der Fertigstellung der neuen Laboranlagen gerechnet werden. Zumindest war es das, wovon wir alle ausgegangen waren. Dass sie in Wirklichkeit bereits herausgefunden hatten, wo wir uns aufhielten, konnte niemand ahnen. Einige der Soldaten spionierten uns aus und bekamen mit, wie wir absprachen, dass ich dich aus der Stadt abholen kommen würde. Das war für sie die optimale Chance und als ich an jenem Abend zu dir fuhr, um dich abzuholen, führten sie ihren Plan aus."

Spuren im SandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt