Kapitel 26

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Eineinhalb Stunden. Ganze eineinhalb Stunden saß ich nun schon im Baumhaus. Jede Minute fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit nach der anderen verbrachte ich damit, mich verzweifelt zu fragen, wie es den anderen ging. Wie es Jamie ging. Ich musste sie zurücklassen. Mit maskierten Männern, die mit ihren Waffen wild um sich schossen. Ich hätte helfen müssen. Ich hätte es auch getan, auch wenn ich es vermutlich nicht gekonnt hätte. Aber ich hätte alles getan, um sie nicht im Stich lassen zu müssen. Nur hatte ich genau das getan. Und je länger ich dort saß, desto mehr bereute ich es. Ich hätte bleiben müssen. Ich hätte ihnen helfen müssen. Aber ich wäre ihm vermutlich nur im Weg gewesen. Vielleicht hätte ich ihn aufgehalten. Ich konnte nicht mehr. Das war alles viel zu viel. Ich rieb mir mit der verbundenen Hand die restlichen Tränen aus dem Gesicht und atmete einmel tief ein und aus. Ich musste mich zusammenreißen. Jamie hatte gesagt, ich sollte mich verstecken. Weglaufen und nicht zum Strand zurückkehren, bis er mich holen kam. Eineinhalb Stunden war ich nun schon im Baumhaus. Alle zwei Stunden sollte ich meinen Standort wechseln. Das bedeutete, ich musste mich in einer halben Stunde wieder auf den Weg machen und ein anderes Versteck suchen. Ich redete mir Ruhe ein und dachte langsam nach. Mir blieben noch die Hütte und die Höhle. Am besten war es vermutlich, wenn ich als nächstes das Versteck aufsuchte, zu dem ich die kürzeste Strecke hatte, um nicht zu viel Zeit im Freie zu verbringen. Denn mit jedem Schritt, den ich draußen tat, lief ich Gefahr, dass ich entdeckt wurde. Und das durfte auf keinen Fall passieren. Eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde musste ich noch durchhalten. Und diese halbe Stunde würde ich damit verbringen, gegen den Drang anzukämpfen, umzudrehen und zurückzulaufen. Ich rieb mir die Schläfen und wischte mir die Hände an den Hosenbeinen ab. Meine Hände streiften eine Erhebung an meinem rechten Bein. Meine Augen weiteten sich, als ich erneut darüber fühlte und mir mit einem Schlag klar wurde, was es war. Mein Handy! Ich hatte mein Handy in der Hosentasche! Ich griff in meine Tasche und zog das kleine Gerät heraus. Ich konnte Hilfe holen. Ich löste die Tastensperre und tippte den Notruf ein. Gerade als ich den Anruf rausschicken wollte, hielt ich jedoch inne. Nein. Das konnte ich nicht machen. Ich hatte ja gar keine Ahnung, was ich damit anstellen würde. Die Polizei anzurufen, war keine Lösung. Eher im Gegenteil. Wer wusste, was ich damit auslösen würde. Ich seufzte und drückte das Tastenfeld wieder weg. Ich musste stark bleiben. Ich musste dort allein durch. Ich musste es solange allein schaffen, bis Jamie mich holen kam. Und er würde kommen. Er hatte es versprochen. Ich musste meinen Teil dazu beitragen, damit dieses Versprechen haltbar wurde. Nicht aufgeben. Stark bleiben.
In dem Moment, in dem ich das dachte, stieg eine merkwürdige Welle des Mutes in mir auf. Sie entsprang im Inneren meines Brustkorbes und wanderte ganz langsam Stück für Stück durch meine Adern und Venen bis in die äußersten Winkel meines Körpers. Als es Fingerspitzen und Zehen erreichte, flammte etwas in meiner Brust auf. Ich starrte überrumpelt an die Wand. Dann sah ich runter. Der kleine blaue Anhänger um meinen Hals war bis auf ein kleines Stück unter meinem Shirt verborgen. Ich griff an die Kette und ließ sie durch meine Finger laufen, bis ich den Stein in der Hand hielt. Ich legte ihn in meine Handfläche und strich mit dem Daumen darüber. Er war warm. So warm wie ein lebender Körper, durch dessen Adern Blut floss und in dessen Zentrum ein Herz schlug. Ich lächelte leicht und eine Träne tropfte auf die glatte Oberfläche des kleinen Steines. Er war hier. Es ging ihm gut. Er war immer noch da. Und er hatte mir die Welle gesendet, die mich durchflossen hatte. Ich umklammerte den Stein und schloss die Augen. "Ich bin auch noch da. Und mir geht es gut." flüsterte ich so leise, dass ich es fast selbst nicht hören konnte. Ich wischte mir mit der freien Hand die Augen und schniefte einmal. "Ich verspreche dir, ich höre auf zu Weinen. Ich werde so stark bleiben wie du es bist. Versprochen." Ich lächelte und verbannte die Tränen aus meinen Augen. Dann ließ ich den Anhänger wieder unter mein Oberteil gleiten, wo er wieder sicher verborgen seinen gewohnten Platz einnahm.
Ich kauerte mich weiter zusammen und rieb mir über die Arme. Nicht aufgeben. Stark bleiben und niemanden fürchten. In dieser Situation spürte ich ein so starkes Verlangen, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Es war Wahnsinn, wenn ich daran dachte, wie schnell und einfach ich wenige Wochen zuvor aufgegeben hatte. Es war dumm gewesen, aufzugeben. Ich hätte schon damals stark bleiben müssen. Diesen Fehler durfte ich nicht noch einmal machen. Ich hatte etwas, für das es sich zu kämpfen lohnte. Ich hatte meine Freunde. Jamie. Emmet. Lissa. Die drei waren Menschen, die ich nach diesem Unheil jeden Tag um mich haben würde. Menschen, die ich schon jetzt unglaublich lieb gewonnen hatte, auch wenn ich sie nicht einmal alle gut kannte. Und genau diese Menschen gaben mir Kraft. Ja, für diese Menschen würde ich weitermachen.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Die zwei Stunden waren rum. Ich musste meinen Standort wechseln. Zunächst sollte ich die Hütte aufsuchen. Zu dieser hatte ich die kürzeste Strecke und würde am wenigsten Gefahr laufen, dass mich jemand bemerken würde. Trotzdem musste ich da raus. Unwissend, wo diese Leute waren, die mich nach dem Leben trachteten. Oder viel mehr nach dem, was ich um den Hals trug. Ich schloss für einen Moment die Augen. Atmete ein. Atmete aus. Drei Sekunden. Fünf Sekunden. Innere Ruhe finden. Ruhig bleiben. Nicht in Panik geraten. Dann öffnete ich die Augen wieder. Ich ließ die Beine von meinem Körper wegrutschen und schob meinen Körper zu dem kleinen Eingang des Baumhauses. Ich spähte hinaus in den Wald. Keine Menschenseele zu sehen. Ich holte ein letztes Mal tief Luft und begann dann, aus dem Holzgestell heraus den Baum hinunterzuklettern. Ich versuchte, jeden Ast genau zu treffen, nur die stabilen zu benutzen und nichts zu treffen, was Geräusche verursachen könnte, die mich verraten würden. Mein Vorhaben gelang mir und ich ließ mich langsam vom untersten Ast in die Laubdecke auf den Boden sinken. Die trockenen Blätter knisterten unter meinen Schuhsohlen. Meine Schritte würden einem im Wald lebenden Tier ähneln und vermutlich nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregen, falls sie jemand aus der Ferne hören würde.
Ich rief mir den Weg zur Hütte ins Gedächtnis zurück und schlug dann eine Richtung ein, in die ich gehen musste. Jamie hatte gesagt, ich sollte immer kleine Bögen um die Hauptwege laufen, um zu gewährleisten, dass ich sicher unterwegs war. Auf den Hauptwegen, die als Trampelpfade im Laub zu erkennen waren, konnten jederzeit die maskierten Männer unterwegs sein. Sollten sie tatsächlich im Wald unterwegs sein, bedeutete das nicht automatisch, dass sie Jamie und Emmet überwältigt hatten. Wie viele von ihnen auf der Insel waren, konnten wir nicht wissen, es war also durchaus möglich, dass sie sich untereinander verständigten und ein paar durch den Wald streiften und suchten, während sich die anderen mit all denen schlugen, die zur Organisation gehörten, in der auch Jamie, Emmet und Johnson arbeiteten. Wie viele Kollegen der drei tatsächlich auf der Insel waren, wusste ich nicht. Ich hätte jeden einzelnen fragen müssen, um es herauszufinden. Es war nicht offensichtlich, bei welchen Passagieren es sich um Geheimagenten handelte. Vermutlich waren es viel mehr als ich für möglich halten würde.
Ich bahnte mir den Weg durch das Unterholz, wobei ich bewusst darauf achtete, nicht zu nah an den Hauptweg zu gehen und möglichst wenig Lärm zu machen. Bei all den toten Ästen und abgefallenem Laub war das viel leichter gesagt als getan, aber ich bekam es ganz gut hin. Auf meinem Weg zu der alten Hütte lief ich niemandem außer einem Eichhörnchen über den Weg. Trotzdem sah ich mich noch einmal um, ehe ich die Türklinke herunterdrückte und die Hütte betrat. Ich schob die Tür hinter mir in den Rahmen und blieb nach dem leisen Klicken des Schlosses noch einen Moment an das Holz gelehnt stehen. Es war totenstill. Das war einer der Momente, in denen ich Stille hasste. Ich mochte keinen Lärm, aber ich hätte in dieser Situation alles für ein paar Geräusche gegeben, die mir symbolisierten, dass alles gar nicht so schlimm war wie es im Augenblick aussah.
Ich entfernte mich langsam von der Tür. Die Hütte hatte Fenster, ich konnte mich also nicht auf den Tisch setzen, so wie in der Nacht, in der Jamie mich das erste Mal hergebracht hatte. Ich sah noch einmal hinaus, nur um festzustellen, dass es nach wie vor außer Bäumen, Laub und Sträuchern nichts zu sehen gab und ließ mich dann an der Ecke der Theke auf den Boden sinken. Damit waren die nächsten zwei Stunden offiziell angebrochen. Dieses Mal war ich jedoch bei Bewusstsein und nicht vollkommen jenseits mit Weinen beschäftigt. Das führte dazu, dass ich schon nach zwanzig Minuten unruhig wurde. Mir fehlte jede Ablenkung und meine Gedanken glitten immer wieder zurück zu dem, was außerhalb meines Wahrnehmungsbereiches wohl in diesem Moment vor sich ging. Und die Tatsache, dass ich es nicht wusste, machte mich wahnsinnig, auch wenn ich mir sicher war, dass die anderen klarkamen.
Ich legte die Fingerspitzen an die Seiten meines Kopfes und massierte meine Schläfen. Es ist alles gut. Es ist nichts passiert. Ich pack das, redete ich mir ein. Ich atmete einmal tief ein und aus und sah mich in der Hütte um. Mein Blick fand nichts, was er nicht bereits zehntausendmal gestreift hatte. Es wunderte mich, dass ich überhaupt etwas anderes erwartet hatte. Seufzend legte ich den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. Mit den Augen fuhr ich die Musterung der Holzdielen nach, als mir plötzlich etwas einfiel. Wenn sie uns gefunden hatten und nach mir suchten, was wahrscheinlich der Fall war, dann hatte das einen ganz bestimmten Grund. Und zwar wollten sie nicht mich, sondern den Stein. Und das bedeutete, wenn sie mich fanden, würden sie sofort bekommen, was sie wollten. Immerhin trug ich ihn so, dass er nicht sichtbarer hätte sein können. Ich musste ihn verstecken, das war das klügste, was ich tun konnte. Nur wo? Ich musste ihn am Körper behalten, würde ich ihn hier in der Hütte verstecken oder draußen im Laub vergraben, war die Gefahr viel zu groß, dass ich ihn nicht wiederfand. Aber wo sollte ich ihn verstecken? Wenn ich ihn in meine Hosentasche steckte, machte das keinen großen Unterschied. Und was blieb mir sonst noch für eine Möglichkeit?
Ich raufte mir die Haare. Wieso musste es eigentlich ein Problem nach dem nächsten geben? Irgendwann musste doch auch mal gut sein. Erst schlug man mich zusammen und zerschmetterte mir die Hand, kaum vierundzwanzig Stunden später überfiel ein Haufen Wahnsinniger die Insel, brachte sämtliche Touristen in Gefahr und trennte mich von meinen Freunden, mein erster Kuss fand im Angesicht des beinahe sicheren Todes statt, ich wurde von ein paar dutzend uniformierten Männern durch den Wald gejagt, die meine Kette wollten und jetzt musste ich besagte Kette auch noch verstecken, ohne zu wissen, wo!
...zerschmetterte mir die Hand!
Ich ließ die Hand von meinem Kopf sinken und sah auf den Verband. Das war die Idee. Ich fragte mich, wie man auf so etwas kam. Und ich wusste irgendwo in meinem Inneren, dass es eine dumme Idee war. Nur leider bot sich keine andere Möglichkeit und ich musste mich mit den Umständen zufrieden geben. Ich kroch über den Boden zu den Regalen und wühlte in den Fächern herum. Es lag allerlei Schnickschnack darin herum, aber mit den meisten Sachen konnte ich nichts anfangen. Ich suchte etwas Bestimmtes. Ich schob einen Stapel Bücher zur Seite und dann endlich fiel mein Blick auf etwas, das den Anschein machte, mir helfen zu können. Ein kleiner verrosteter Kasten, in dessen Deckel ein Kreuz eingestanzt war. Ich zog ihn aus dem Regal, setzte mich mit dem Rücken an die Wand und öffnete den provisorischen Erste Hilfe Kasten. Ganz wie ich erwartet hatte, war er alles andere als gut in Schuss, aber ich brauchte ja nur eine einzige Sache. Ich nahm die rostbraune stumpfe Schere und die hoffnungslos verklebte Pflasterrolle heraus und legte sie neben mich auf den Fußboden. Dann wühlte ich weiter in der kleinen Kiste herum. Der Großteil des Inhaltes war hoffnungslos hinüber und zum Teil gar nicht mehr definierbar, aber ganz unten fand ich schließlich ein paar Verbände. Sie waren in einem besseren Zustand als man es nach dem Anblick seiner Vorgänger vermutet hätte. Ein paar waren sogar noch weiß. Ich sah mir die keinen weißen Mullrollen an und suchte mir einen heraus. Ich legte ihn auf meinen Schoß und knibbelte dann an dem Ende des Verbandes herum, der meine rehte Hand zierte. Ich bekam es einhändig nicht auf, also führte ich die Stelle an meine Lippen und löste den Verband mit den Zähnen. Ich wickelte ihn vorsichtig ab und legte ihn dann auf mein Bein. Der Anblick meiner ledierten Hand brachte mich zum Schlucken, aber ich riss mich zusammen und machte weiter. Ich zog den Anhänger unter meinem Oberteil hervor, umfasste ihn mit der Faust und nahm ihn ab. Dann nahm ich ihn in die linke Hand und legte die Kette um mein Handgelenk. Ich schlang sie so oft um meinen Arm, bis der Anhänger direkt an meiner Haut hing, achtete aber darauf, sie locker umzuwickeln. Ich legte den blauen Anhänger auf die Innenseite meines Handgelenks und griff dann nach dem Verband aus dem Erste Hilfe Kasten. Den Anfang legte ich in meine Handfläche und hielt ihn dort fest, dann fing ich an, erst den Anfang fest zu wickeln und wanderte dann meinen Arm hinauf. Das Ende des Verbandes klebte ich mit einem der noch einigermaßen brauchbaren Pflaster aus dem Koffer fest. Dann griff ich nach dem Verband, den ich zuvor getragen hatte. Er war schon nicht mehr weiß, viel eher leicht bräunlich vom Schmutz und dem Schweiß meiner Hände. Wickelte ich ihn ausßen herum, würde niemand darauf kommen, dass ich den Stein dort versteckt hatte. Immerhin gab es keinen Grund, eine Kette nicht um den Hals zu tragen. Wenn ich Glück hatte, würden sie nicht auf dieses Versteck kommen, wenn sie mich tatsächlich fanden. Aber ich würde natürlich alles versuchen, um zu vermeiden, dass ich ihnen wirklich begegnete. Ich wickelte den alten Verband über den anderen, sodass er ihn sicher verdeckte und klebte ihn nachdem ich mit der freien hand und meinen Zähnen einen Knoten gemacht hatte, mit dem Rest an Pflastern zu. Auch dabei benutzte ich wieder Taktik. Ich klebte erst den Knoten fest, dann zog ich die übrigen Pflaster durch den Staub am Boden, sodass sie ebenso verdreckt waren wie der Verband, und klebte sie darüber. Als ich mit allem fertig war, betrachtete ich mein Werk. Es sah wirklich haargenau aus wie vorher. Hätte ich nicht gewusst, was ich in den letzten Minuten getan hatte, wäre ich nicht darauf gekommen, dass unter dem Verband eine Kette versteckt war. Blieb nur zu hoffen, dass die Leute von der Organisation auch nicht drauf kommen würden.

Spuren im SandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt