Russian Roulette: 32 - Pi

262 33 10
                                    

Wir saßen nach dem Essen auf der Couch im Wohnzimmer und redeten jetzt wesentlich entspannter über den Prozess. Tom war sich sehr sicher, dass Lüttkenhaus keinerlei Chancen haben wird, als freier Mann aus der Sache herauszugehen.

Wir sprachen über die Hintergründe des Verfahrens, was mir wirklich schwerfiel. Über meine Jugend im Internat, über „Lütti", den unscheinbaren Nerd – mein Drang, ein Glas Rotwein zu trinken wurde nicht weniger. Im Gegenteil. Mir war klar, dass sie es leichter für mich machen wollten, aber die Gespräche über Lüttkenhaus schürten Erinnerungen in mir, Ängste und noch tiefere, dunklere Gedanken. Ich wollte mich nicht mitziehen lassen, aber jetzt gerade fiel das wirklich schwer. Dieser Prozess, Lüttkenhaus, all das war wie ein sehr starkes, schwarzes Loch, das an mir zog und zerrte, um mich endgültig in die Dunkelheit zu reißen.

Ich wusste, dass Nick das nicht zulassen würde.

Ich wusste, dass Becky und Tom das nicht zulassen würde.

Ich wusste, dass Jan, dass keiner meiner Freunde das zulassen würden.

Aber trotzdem riss gerade die Dunkelheit an mir wie ein wildes Tier.

Becky rieb sich nachdenklich das Kinn. „Das heißt, §20 spricht ihn aufgrund eines psychiatrischen Problems von der Schuld frei und §63 regelt dann die Unterbringung. Das ist doch verrückt."

„Du kannst doch keine Psychopathen draußen rumrennen lassen, denen der Toaster sagt, sie müssen Leute essen." Tom rollte die Augen und griff in die M&M-Tüte

Um meine Mundwinkel zuckte es. „Du glaubst, das steht in seinem Gutachten? Dass der Toaster ihm befohlen hat, mich zu entführen?"

Tom grinste. „Das wäre witzig, was?" Er warf einen M&M hoch und fing es mit dem Mund auf. „Nein. Aber das ist das, was jetzt erstmal geprüft wird. Ihm muss zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass er zum Zeitpunkt der Tat nicht in der Lage war, einzusehen, dass er da gerade richtig Scheiße baut."

Ich schloss die Augen. In meinem Kopf tauchten Bilder auf, die ich dort nicht haben wollte. Vom Keller. Von der Dunkelheit. Von engen Räumen. Von ihm. Von seinem Lachen. Ich hörte die Dinge, die er zu mir gesagt hatte. Spürte, was er mit mir gemacht hatte.

„Also kann es sein, dass das Gericht von vorneherein sagt, Lüttkenhaus ist einfach ein kranker Arsch?"

Die Frage stand eine Weile im Raum, bis Tom abwägend nickte. „Ja, sozusagen schon. Dann gilt wie gesagt Variante 1. Normales Verfahren. Verurteilung. Knast."

„Oder Freispruch."

„Er hat versucht, dich mit Ammoniak zu vergiften", sagte Nick leise.

Ich versteifte mich neben ihm und roch sofort das Ammoniak, das durch den Raum gewabert war und langsam, aber beständig meine Lunge angegriffen hatte. Ich hatte Wochen gebraucht, um mich davon zu erholen. Selbst jetzt hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

„Der kommt nicht frei", setzte er dann noch hinterher.

Ich schluckte das Gefühl der Übelkeit hinunter. „Können wir bitte über was anderes reden?", fragte ich dann. „Fahrt ihr nochmal in den Urlaub, bevor das Baby kommt?" Die drei sahen mich an, als ob ich komplett irre wäre. „Bitte", setzte ich hinterher und rang mir ein Lächeln ab, das mich alle Kraft der Welt kostete. „Ich denke so schon an nichts anderes mehr als an Lüttkenhaus." Immerhin hatte sein Name an Kraft verloren.

Nick schob mir sanft die Hand in den Nacken und strich mit dem Daumen über die weiche Haut hinter meinem Ohrläppchen. Die Berührung hinterließ sofort Schauer auf meiner Haut und ich schloss unwillkürlich die Augen.

The Distance between usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt