My Home is my Castle: 19 ~ Pi

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Ich hatte nicht zurück nach Düsseldorf gewollt. Wirklich nicht. Und jetzt, wo ich hier war... war es eigentlich ganz in Ordnung.

Ich saß schon den ganzen Vormittag auf der Rheintreppe und zählte Schiffe. Irgendwann, ich glaubte, ich war bei 54, hatte ich aufgehört. Dann hatte ich begonnen, Menschen zu beobachten. Jugendliche, die dealten zum Beispiel. Die glaubten, es unauffällig zu machen, aber dabei so offensichtlich waren, dass es lächerlich war. Touristen, die die Promenade lang flanierten und Selfies machten. Die Penner, die Bierflaschen sammelten.

Keine Ahnung, wie lange ich schon hier saß. Ewig. Zuhause hatte ich es nicht ausgehalten. Meine Mutter war genau wie damals drauf. Sie hatte mich regelrecht erdrückt. Schatz, hast du gegessen? Schatz, brauchst du was? Schatz, möchtest du –

Ich war nicht krank, verdammt.

Aber über diese Entführung... und Lütti... Tristan... Lüttkenhaus, ich wusste nicht, wie ich ihn nennen sollte, denn alles fühlte sich falsch an, das hatte ich noch nicht verarbeitet.

Moritz hat mal gesagt, dass mir so etwas wie Carrie, diese Sache, nie wieder passieren würde. Und damit hatte er ja auch recht gehabt. Ich hatte Angst, dass Pico – das Pferd, das Jan mir angeboten hatte – auch... dass ihm auch sowas passieren würde. Ja. Pico ging es gut. Nur war ich entführt worden.

Mechanisch griff ich nach der Flasche Bier neben mir und trank einen Schluck. Darüber war ich nicht weg. Darüber würde ich auch noch lange nicht hinweg kommen... Das würde auch noch eine ganze Weile dauern.

Meine Eltern schickten mich - seit ich wieder in Düsseldorf war zu Therapeuten. Zwei Sitzungen hatte ich bislang gehabt. Ich hatte nicht das Gefühl, das es mich sonderlich viel weiterbrachte. Nach dem Debakel mit der beigen Frau würde ich sicherlich nichts mehr von mir reisgeben. Gar nichts. Jeden Montag und Donnerstag verabschiedete ich mich brav von meinen Eltern, fuhr zur Praxis der beigen Frau und tat so, als ob ich eine Stunde Therapie hatte. Am Ende erzählte ich meinen Eltern, wie toll es gewesen war und wie viel besser es mir ging. Meistens verbrachte ich meine Zeit in der Innenstadt oder auf der Rheintreppe und sah den Schiffen zu – wie auch heute.

Mein Handy vibrierte in meiner Jackentasche. Ich griff danach und sah auf der Anrufkennung, dass es Nick war.

Mein Körper machte komische Dinge, wenn er sich bei mir meldete. Ich wollte weinen. Und lächeln. Und ich bekam keine Luft. Und mein Herz klopfte schneller. Und ich wollte dieses Gespräch auf gar keinen Fall annehmen. Und doch wollte ich nichts lieber als das.

Ich brauche Zeit.

Das hatte ich ihm gesagt als mich meine Eltern zurück nach Düsseldorf gezerrt hatten. Das stimmte auch. Mir fehlte schier die Luft zum Atmen. Aber er fehlte mir auch. Ich konnte es nicht besser erklären.

Ich zögerte noch kurz, dann brach der Anruf ab. Zu spät. Was er wohl gewollt hatte. Nur so? Oder war es wichtig gewesen?

Er rief mich nie an. Wenn wir telefonierten, rief ich ihn an. Meistens schweißgebadet und panisch, mitten in der Nacht, wenn ich aus einem Alptraum aufgeschreckt war –oder von vorneherein keine Ruhe gefunden hatte. Wenn er sich bei mir meldete, schrieb er mir. Meistens ein Hey. Oder Biep. Dann musste ich lächeln. Ich glaubte, das wusste er.

Ich schloss die Augen und rief zurück. Es kingelte nur einmal, bis er abnahm. „Hey Pi-Sophie", meldete er sich und seine warme Stimme schickte mir eine Gänsehaut den Nacken hinunter.

„Hey...", gab ich zurück. „Ich war zu langsam."

„Hab ich gemerkt", sagte er. Seine Stimme klang etwas blechern.

„Fährst du Auto?"

Er schwieg kurz. „Ähm... ja. Du, ich hatte eine echt blöde Idee und ich hoffe, du bist nicht sauer deswegen..."

„Wieso?"

„Also... Ida hat..."

„Was ist mit ihr?"

Er holte tief Luft. „Ida hat mir deinen Schlüssel gegeben. Ich dachte, du vermisst bestimmt dein Auto und...Also, ich, ähm, ich sitze gerade in deinem Cupra und bin kurz vor Leverkusen."

„Was?" Was hatte er da gerade gesagt? „Wo bist du?"

„Leverkusener Kreuz. In deinem Auto. Ich bringe es dir nach Düsseldorf. Ich bin in einer halben Stunde circa da."

Mir lag ein „Spinnst du" auf den Lippen, aber irgendwie brachte ich das nicht heraus. Er war auf dem Weg zu mir. Mit meinem Auto? Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Er war auf dem Weg hier her. Zu mir. Verdammt. Wie sah ich eigentlich aus?

„Pi? Bist du noch dran?"

„Ja... ja, ich bin noch dran."

„Soll ich den Wagen zu deinen Eltern fahren?"

„Ähm..." Ich war total überfordert. „Nein... Ich schick dir die Adresse von einem Parkhaus, okay? Ich bin in der Stadt."

„Pi?"

„Ja?"

„Bis gleich..."

„Bis gleich."

Dann brach das Gespräch ab.

Das war doch verrückt. Er saß in meinem Auto? Das konnte doch nicht wahr sein? War das seine Idee gewesen? Wenn ich wetten müsste, würde ich auf Julius setzen. Julius traute ich solche Ideen eher zu als Nick. Nicht, dass der nicht einfallsreich war, aber...

Mein Puls raste durch meine Adern und ich suchte mit zittrigen Fingern nach einem Parkhaus in der Nähe. Ratinger Tor. Das ging. Ich schickte ihm die Adresse sah auf die Uhr. Halbe Stunde hatte er gesagt. Zwanzig Minuten, wenn er nicht wie ein Verkehrspolizist fuhr und den Wagen auskostete. 300km/h Spitze... Ich liebte diesen Wagen. Und ich liebte Nick dafür, dass er ihn mir zurück brachte.

Ich schluckte.

Er fehlte mir. Ja, verdammt... er fehlte mir. Und das machte das alles nicht einfacher.

Ich lief langsam durch die Ratinger Straße Richtung Parkhaus. Es war erstaunlich wenig los für einen Freitagabend – kaum Junggesellenabschiede. Ich lief Mitten auf dem Kopfsteinpflaster und versuchte noch immer im Kopf klar zu bekommen, dass Nick vermutlich gerade im Moment einen Parkplatz suchte. Wie verrückt war das eigentlich?

Vermutlich sollte ich sauer sein. Was, wenn er einen Unfall gebaut hätte? Mit meinem Auto... Nicht auszudenken, wenn... Ich schluckte. Ich stand vorm Kreuzherreneck, hatte schwitzige Hände und das unbändige Verlangen, meine Nervosität mit einem Drink zu beruhigen. Ich sah auf mein Handy.

Ich: Bist du schon da?

Unschlüssig blieb ich auf der Straße stehen und wartete einen Moment. Dann vibrierte mein Handy in meiner Hand und ich sah zum Eingang der Kneipe, bevor ich die Nachricht las.

Nick Gehrig: Gerade geparkt. Wo bist du?

Ich zögerte. Nein. Einfach nein, Sophie.

Ich: bin in drei Minuten da. Gegenüber vom Parkhaus ist die Polizeiwache. Da müsstest du dich ja wohlfühlen, Herr Wachtmeister.

Er schickte ein Emoji mit rollenden Augen und eines mit zwinkernden Augen und schrieb Bis gleich.

Ich lief los. Befand mich gefühlsmäßig irgendwo zwischen Vorfreude und Nervosität und Angst. Hatte Schmetterlinge und Reißnägel im Bauch und war mir nicht sicher, was genau überwog – bis zu dem Moment, als ich ihn an der Ecke gegen die Wand lehnen sah.

The Distance between usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt