Julius hatte recht. Ich musste nach Gießen fahren und sie sehen, ich würde sonst noch verrückter werden, als ich eh schon war. Scheiß auf die Meinung ihres Vaters. Ich musste einfach ihr fucking Held sein. Er hatte recht.
Als ich von der WG-Party nach Hause gekommen war, hatte ich nicht lange rumgemacht und die zweite Hälfte der Schlaftablette genommen, mir diesmal aber den Wecker gestellt. Er klingelte um acht Uhr und es fiel mir erstaunlich schwer, in die Gänge zu kommen. Trotzdem hatte ich erstaunlich gut geschlafen. Diesmal traumlos.
Ich duschte, ging nicht Laufen und frühstückte knapp. Ich brauchte zwei Kaffee zum Wachwerden und schrieb beim ersten meiner Schwester eine Nachricht.
Ich: Danke für die Tabletten. Der Erfinder verdient einen Nobelpreis. Ernsthaft. Danke, Drea...
Sie antwortete innerhalb einiger Minuten.
Drea: Gerne. Bau keinen nobelpreisverdächtigen Scheiß damit. Ich bring dich sonst um. Ernsthaft. Gerne, Nick..
Ich schmunzelte, trank noch etwas Kaffee und zuckte im nächsten Moment zusammen, als es an der Wohnungstür klingelte.
„Ah, verdammt!" Vor Schreck hatte ich mir den Kaffee halb über geschüttet. Es klingelte erneut. „Ja, man. Ich komm ja schon." Halbherzig wischte ich mit einem Küchenhandtuch den Kaffee weg und lief zur Tür. „Hallo?"
„Herr Gehrig? Bernicke? Darf ich kurz reinkommen?"
Was? Jetzt? „Warum?"
„Das würde ich gerne nicht an der Gegensprechanlage bereden. Außerdem regnet es."
Was hatte das zu bedeuten?
Ich drückte auf den Summer.
Ich wartete mit verschränkten Armen vor der Tür, bis sie die Treppe hoch gekommen war. „Was gibt's?"
Linda Bernicke musterte mich, die versaute Jeans und meine abweisende Körperhaltung gründlich. „Neuigkeiten..."
„So?"
„Ich bin nicht offiziell hier..."
„Heißt?"„Dass ich eine lange Nacht hatte und für einen guten Kaffee dankbar wäre..." Sie lächelte müde.
Ich atmete durch. So viel zu meinem Plan, schnell nach dem Frühstück in mein Auto zu steigen. Ich trat einen Schritt zur Seite und ließ sie rein. „Die Küche ist da vorne."
Sie sah sich wachsam in der Wohnung um und setzte dann auf einen der Stühle am Fenster, während ich ihr einen Kaffee mit den Chile-Bohnen machte. Als sie ihn probierte riss sie - wie jeder – erstaunt die Augen auf. „Oh, wow, der ist ja wirklich gut!"
„Sie wollten einen guten Kaffee..." Ich schmunzelte und setzte mich.
Sie trank einen weiteren Schluck und seufzte leise. „Wirklich gut...halbe Sachen machen Sie selten, was?" Dann wurde sie ernst und sah mich an. „Das Gespräch, das wir ab jetzt führen ist vertraulich... Das sind immer noch laufende Ermittlungen und ---"
„Ja", unterbrach ich sie, „Ich bin nicht dumm. Ich hab den gleichen Job, schon vergessen?"
„Nein... Sie, kleiner anmaßender, suspendierter Idiot..." Sie lächelte. „Jemanden wie Sie habe ich schon lange nicht mehr erlebt... und nur deshalb sitze ich jetzt hier. Dieser Fall war für uns..."
Sie schwieg einen Moment. „Ich sage Ihnen, was ich anfangs in diesem Fall gesehen habe: Nichts. Das Mädchen war grundlos verschwunden. Und viel zu früh vermisst gemeldet. Dann dieses Freundschaftsband. Die Blutspuren daran. Von Anfang an war klar, dass dieses Band irgendein wichtiges Indiz war. Das Pferdeblut hat aber überhaupt keinen Sinn gemacht. Wir haben Sie danach gefragt und die Eltern. Die Eltern sind ausgerastet. Die Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch auf dem Revier."
Sie schwieg einen Moment. „Als ich in Düsseldorf angerufen habe und die Kollegen mir gesagt haben, dass Sie diese Akte haben, bin ich fast ausgeflippt. Wie konnte das sein, hab ich mir gedacht, dass dieser kleine Idiot immer eine Nasenlänge voraus ist? Und dann kamen Sie auch noch mit Jana Stephan um die Ecke. Ich habe echt gedacht, ich kann meinen Job nicht. Und dann noch die Sache mit den Videobändern und Daniel von Söder." Sie lachte trocken. „Ich dachte echt, ich bin eine Anfängerin."
„Es tut mir leid", sagte ich und meinte es tatsächlich auch so. „Ich wollte Sie nicht vorführen oder so."
„Haben Sie nicht." Sie lächelte. „Zum Glück... Weil am Ende... haben Sie nur Ihren Fall gelöst...nicht meinen."
Ich runzelte die Stirn. „Meinen Fall?"
„Den Pferderipperfall... Jana Stephan. Eifersucht, die Dreiecksgeschichte im Internat. Ihr Fall..." Ihr Lächeln verschwand. „Es hatte den Anschein, dass beide Fälle einer sind. Aber das stimmt nicht. Sie sind verwoben, miteinander verstrickt... und Sophie ist in beiden Fällen leider das Opfer. Aber es ist nicht ein großer Fall."
Sie schwieg einen Moment und ich ließ das sacken. In der Klinik hatten wir darüber bereits gesprochen, dass Jana Carrie umgebracht hatte. Ich schloss die Augen und atmete durch. „Okay... Also hat von Söder alleine gehandelt?"
„Oh, von Söder ist sauber..."
Ich hob den Kopf. „Sicher? Moritz meinte, er hätte diese Anzeige am Hals gehabt und --"
„Ja. Hatte er. Und das hängt ihm bis heute nach. Wird ihm auch ewig anhaften. Wir haben ihn tatsächlich sehr gründlich durchleuchtet, beschattet und auch verhört. Daniel von Söder ist sauber. Und ihm ist es zu verdanken, dass Pi jetzt frei ist. Er gab uns den entscheidenden Tipp."
Ich setzte an etwas zu sagen, ließ das aber sacken und lehnte mich zurück. „Aha... und..."
„Er brachte uns auf Tristan Lüttkenhaus."
„Wen?"
Sie lächelte. „Lüttkenhaus war im gleichen Jahrgang. Eigentlich ein unscheinbarer Typ. Damals. Marke Streber, Informatikjunkie, unauffällig, wenig beliebt, ein Mitläufer. Von Söder hatte ihn auf dem Kieker. Mit Sophie muss Lüttkenhaus sich ganz gut verstanden haben. Von Söder meinte, Lüttkenhaus sei an Sophie interessiert gewesen, aber das wären wohl alle Jungs im Jahrgang gewesen."
Ja, das hatte ich gehört.
Bernicke überlegt einen Moment. „Dieser Lüttkenhaus war sehr motiviert, Ansehen zu erlangen innerhalb des Jahrgangs. Unter anderem durch Gefälligkeitsdienste. Unter anderem war er wohl recht gut in Programmierarbeiten von Websites."
Auf einmal wurde ich hellhörig. „So?"
„Ja... Tatsächlich taucht seine Hackersignatur in den Forenprofilen ihres Dossiers über Jana Stephan auf..."
Ganz plötzlich saß ich senkrecht auf meinem Stuhl. „Moment! In den SM-Foren?!"
Bernicke lächelte. „Wir sind noch nicht ganz durch... und der Profiler ist auch noch nicht hundertprozentig durch mit seinem Profil, aber..."
.........
Na... mh? 😎😉
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The Distance between us
Romance„Pi?!" Ich stürmte in die Wohnung - aber sie war leer. Das Einzige, was ich fand, war ihr Handy auf dem Boden im Flur und daneben auf dem Teppich ein verkrusteter, verdreckter Klumpen. Mein Verstand setzte aus. In meinem Ohr war nur noch ein lautes...