Heiligabend vor drei Jahren
Es war einmal eine Königin, die saß an einem Wintertag am Fenster, das einen schwarzen Rahmen aus Ebenholz hatte, und nähte. Versehentlich stach sie sich mit der Nähnadel in den Finger. Als sie drei Blutstropfen in den Schnee fallen sah, dachte sie: „Hätt' ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen!" Ihr Wunsch erfüllte sich, und sie bekam eine Tochter, die Schneewittchen genannt wurde, weil sie schneeweiße Haut, blutrote Wangen und schwarze Haare wie Ebenholz hatte.
Nach der Geburt aber starb die Königin und der König nahm sich eine neue Gemahlin. Diese war sehr schön, aber eitel und böse. Sie konnte es nicht ertragen, an Schönheit übertroffen zu werden. Als Schneewittchen sieben Jahre alt war, nannte der sprechende und allwissende Spiegel der bösen Königin Schneewittchen und nicht sie die Schönste im ganzen Land. Von Neid und Eifersucht geplagt, beauftragte die Stiefmutter einen Jäger, das Kind im Wald umzubringen und ihr zum Beweis dessen Lunge und Leber zu bringen. Doch der Mann ließ das flehende Mädchen laufen und brachte der Königin Lunge und Leber eines Frischlings, die diese im Glauben, es seien Schneewittchens, kochen ließ und verspeißte.
Wenn man es so betrachtet, ist Schneewittchen ein ziemlich grausames Märchen. Verlust. Missgunst. Neid. Eifersucht. Mord. Und das erzählte man kleinen Kindern zum Einschlafen.
Wenn ich nur schlafen könnte...
***
Ich starre aus dem Fenster. Schneeflocken fallen vom Himmel. Eine nach der anderen. Auf dem Rasen hat sich schon eine geschlossene Schneedecke gebildet. Schneeweiß. Im Haus ist es ganz still. Keiner ist Zuhause. Ich sollte auch nicht hier sein. Ich sollte bei Moritz sein. Aber er ist auch nicht bei sich zuhause. Er räumt das Haus aus. Er „säubert" es. Er packt alle Erinnerungen in Umzugskartons und verstaut sie im Keller. An Heiligabend.
Ich sitze am Fenster in Vaters Arbeitszimmer und sehe den Schneeflocken zu. Stelle mir vor, dass ich in einem Märchen gefangen bin. Schneewittchen, denke ich bitter. Weiß wie Schnee. Rot wie Blut. Weiter komme ich nicht. Der Gedanke schiebt sich vorher in meinen Kopf: wie Carries Blut wohl aussehen würde? Heute? In all dem Schnee? Ob der ganze Garten rot wäre?
„Prinzessin?"
Ich zucke zusammen, als ich Mos Stimme im Türrahmen höre, drehe mich aber nicht zu ihm um.
„Ich bin fertig. Ich hoffe, ich habe nichts übersehen..."
Ich nicke mechanisch und höre, dass er leise näher kommt. Meine Augen brennen, aber ich gestatte mir nicht, zu weinen. Ich habe die ganze Zeit nicht geweint, als fange ich heute deswegen nicht an. „Danke."
„Kein Problem." Er geht vor mir in die Knie und sieht mich eine Weile schweigend an. Seine grünen Augen blicken mich traurig an und er sieht aus, als ob er mich in die Arme schließen will – aber er tut es nicht. „Magst du noch bleiben?", fragt er und sein Blick verhakt sich mit meinem. Er ist mein bester Freund. Ich frage mich, warum er mich so ansieht.
Ich schüttele den Kopf und stehe mühsam auf und komme vor ihm zum Stehen. „Danke, Mo", flüstere ich und er sagt nichts. Sieht mich nur noch immer so komisch an. Besorgt. Schweigend. Der Blick noch immer mit meinem verhakt. Ich muss wegsehen. Sonst wird es mir unangenehm. Warum, kann ich nicht sagen. Es fühlt sich einfach nicht richtig an.
Ich weiß nicht, ob es für ihn auch komisch ist. Seit ein paar Wochen schon ist es... anders. Ich weiß nicht, ob es an mir liegt oder an dem, was Ende November geschehen ist. Er behandelt mich wie ein rohes Ei. Jeder behandelt mich so.
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The Distance between us
Romantik„Pi?!" Ich stürmte in die Wohnung - aber sie war leer. Das Einzige, was ich fand, war ihr Handy auf dem Boden im Flur und daneben auf dem Teppich ein verkrusteter, verdreckter Klumpen. Mein Verstand setzte aus. In meinem Ohr war nur noch ein lautes...