-TWENTY-TWO-

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Ivory

Das Gespräch mit meinem Vater gestern Abend hatte mich mehr aus der Bahn geworfen, als ich zugeben wollte. Die ganze Zeit schon versuchte ich an etwas anderes zu denken, als an das, was Dad mir gestern Abend am Telefon erzählt hatte. Doch es ging nicht. Immer wieder schweiften meine Gedanken genau dorthin. Was unsere Professorin heute Morgen in der Vorlesung erzählt hatte? Über was Cooper sich heute in der Mittagspause mit Nolan unterhalten hatte? Ich wusste all das nicht mehr, weil ich mit meinen Gedanken nicht im Hier und Jetzt war. Ich war dort, wo ich nie wieder sein wollte. In meiner Vergangenheit. Es fühlte sich so an, als ob ich feststecken würde und es keinen Ausweg herausgab, aus dem Gedankenkarussell, das sich in meinem Kopf gerade munter drehte. Als die letzte Vorlesung des Tages endlich vorbei war, saß ich scheinbar viel länger als nötig auf meinem Platz, denn ich realisierte erst, dass sich der Raum allmählich leerte, als Cooper mir auf die Schulter tippte und mich so aus meinen Gedanken holte. „Geht es dir gut?", wollte er von mir wissen, während er mich mit kritischem Blick anschaute. „Ja, alles gut. Ich habe nur schlecht geschlafen", antwortete ich ihm schnell. Ja, ich log ihn gerade an, aber ich war nicht in der Lage dazu ihm die Wahrheit zu sagen. Wieder schaute er mich kritisch an, doch er sagte nichts mehr dazu, stattdessen standen wir auf und verließen den Hörsaal und danach auch das Gebäude. „Soll ich dich nach Hause fahren?", fragte Cooper mich, während wir gemeinsam in Richtung Parkplatz liefen. Wir waren heute Morgen getrennt hergekommen, da ich gemeinsam mit Keith gelaufen war und Cooper gefahren war. „Wenn es dir keine Umstände macht", antwortete ich ihm. Innerlich war ich ihm dankbar dafür, denn so musste ich nicht allein durch die Gegend laufen. „Nein, das macht mir keine Umstände, Ivory", sagte er beruhigend zu mir. Dankbar lächelte ich ihn an, bevor wir den restlichen Weg zu seinem Auto liefen und er mich nach Hause fuhr. „Wenn ich zu Hause bin, dann schicke ich dir die Unterlagen von den Vorlesungen, die wir heute hatten, damit du alles hast", sagte Cooper zu mir, während er das Auto durch die Straßen San Franciscos lenkte. „Danke", seufzte ich. Müde ließ ich meinen Kopf gegen die Kopflehne des Sitzes sinken. Ich hatte heute Nacht zwar geschlafen, trotzdem war ich müde. Meine Gedanken machten mich müde. „Wenn du jemanden zum Reden brauchst, dann kannst du jederzeit zu mir kommen", bot Cooper mir an. Dankbar lächelte ich. „Danke, ich weiß das zu schätzen, Cooper." Die Tatsache, dass ich wahrscheinlich niemals mit ihm darüber reden würde, ignorieren wir einfach mal. Denn wenn ich mit ihm reden würde, dann müsste ich ihm alles erzählen, sonst würde er nicht verstehen, wieso ich heute so in meine Gedanken vertieft war. Und dazu war ich nicht bereit. Ich war nicht bereit dazu jedem zu erzählen, was mir passiert war. Ja, ich hatte es Keith erzählt, aber auch nur, weil ich ihm vertraute. Mehr als ich den anderen vertraute. Ich hatte Angst, dass wenn ich es mehr Leuten erzählen würde, sie mich verurteilen würden. Nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Und so schwieg ich lieber die gesamte restliche Fahrt über.

Sobald ich zu Hause angekommen war, schlüpfte ich in bequeme Klamotten und ließ mich im Wohnzimmer auf das Sofa fallen. Keith war noch nicht wieder zu Hause, jedoch hatte er mir geschrieben, dass er Essen für uns beide mitbringen würde, sobald er all seine Vorlesungen des Tages hinter sich hatte. Seufzend griff ich nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und schaltete wahllos durch die Programme, bis ich irgendeine Trash-TV Sendung fand, die einigermaßen unterhaltsam war. Zumindest für einige Zeit schaffte ich es mich mit Trash-TV abzulenken, doch irgendwann ließ die Wirkung nach und meine Gedanken drehten wieder frei. Umso dankbarer war ich, als Keith nach Hause kam und Essen mitgebracht hatte. „Wie geht's dir?", fragte er mich, während er das Essen auf dem Esstisch abstellte und kurz ins Badezimmer verschwand, um Hände zu waschen. „Ich bin müde und wie geht's dir?", stellte ich die Gegenfrage. „Meine Kurse waren ziemlich anspruchsvoll, aber sonst kann ich mich nicht beschweren", antwortete er mir. „Hattet ihr heute kein Training?", wollte ich von ihm wissen, denn soweit ich mich erinnern konnte, hatten die Jungs sonst immer Montags Training. „Nein, der Coach hat uns freigegeben, damit wir uns vom Spiel erholen können. Wir haben erst morgen wieder Training", erzählte er mir. Ich nickte, bevor ich mich auf mein Essen konzentrierte. Nach dem Essen räumten wir gemeinsam unser Geschirr in die Spülmaschine, bevor wir beide in unsere Zimmer verschwanden, da wir beide jeweils noch Sachen fürs College machen mussten. Auch wenn ich heute eher weniger bei der Sache war, las ich mir noch einmal alles durch, was heute in den Vorlesungen besprochen wurde. Cooper hatte mir netterweise alles geschickt, was er aufgeschrieben hatte, denn mein Blatt war heute Morgen fast komplett leer geblieben. Ein Großteil der Sachen, die heute besprochen wurden, war zu meinem Glück nur Wiederholung gewesen, somit hatte ich nicht allzu viel verpasst. Jedoch war mir bewusst, dass mein geistiger Zustand von heute nicht zum Alltag werden sollte.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als es an der Tür klingelte. Müde schleppteich mich zur Wohnungstür und öffnete diese. „Hallo Ivory." Erschrocken machte ich einen Schritt nachhinten, als ich realisierte, wer vor der Tür stand. 

Strong SideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt