-TWENTY-THREE-

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„Was willst du hier?" Ich hatte damit gerechnet, dass irgendjemand von den Jungs vor der Tür stehen würde, doch nicht damit, dass er vor der Tür stehen würde. „Was ich hier will? Vielleicht will ich mit dir reden? Aber vielleicht will ich mich dafür rächen, dass du mir mein Leben versaut hast", antwortete er mir schroff. „Geh, sofort!" Er lachte. „Du denkst wirklich, dass ich dich so lange gesucht habe, damit du mich einfach wegschicken kannst." Bei seinem Lachen schossen mir Bilder durch den Kopf, die ich in den letzten Jahren in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses verbannt hatte. Mein Herzschlag beschleunigte sich mit jeder Sekunde, die er vor mir stand. „Verschwinde, Ilja." „Du hast mein Leben zerstört, Ivory." Ich schüttelte den Kopf. „Nein, du hast dein Leben selbst zerstört mit dem, was du mir angetan hast, also verschwinde." Wieder lachte er nur. „Du hast mich damals angezeigt. Und auch wenn ich nicht verurteilt worden bin, finde ich keinen Job, weil ich trotzdem einen Eintrag in meinem Führungszeugnis habe." Ich atmete tief durch und sammelte mich eine Sekunde, bevor ich ihm wieder antwortete. „Geh einfach, Ilja. Du hast hier nichts verloren." Er war damals definitiv alt genug gewesen, um sich im Klaren darüber zu sein, welche Auswirkungen seine Handlungen haben würden. Und jetzt mussten wir beide mit diesen Auswirkungen leben. „Deine Mutter ist am Boden zerstört, weil du sie einfach allein in Boston gelassen hast", sagte er zu mir. Wie schnell konnte er bitte das Thema wechseln? Ich zuckte mit den Schultern. Meine Mutter hatte mir damals nicht geglaubt, als ich sie am meisten gebraucht hätte. Stattdessen hatte sie sich auf Iljas Seite gestellt, wieso sollte ich jetzt also auch nur ein bisschen Mitleid dafür haben, dass sie allein in Boston war? Mal davon abgesehen war sie nicht wirklich allein. Denn soweit ich wusste, verbrachte sie viel Zeit mit Iljas Vater und wahrscheinlich besuchte selbst Ilja sie ständig. Immerhin hatte sie selbst nach dem alles passiert war den Kontakt mit Ilja gehalten. Und sie hatte mehr Kontakt zu ihm, als zu ihren eigenen Kindern. „Fühlst du dich eigentlich nicht schlecht, dass du einfach den Kontakt zu deiner Mutter abgebrochen hast?", fragte er mich provokant. „Nein und wenn du jetzt nicht endlich gehst, dann rufe ich die Polizei", sagte ich sauer zu ihm. „Die Polizei? Ach, wie süß du doch bist, Ivory", lachte er. „Das hier ist meine Wohnung, also geh jetzt endlich", wiederholte ich mich, was Ilja jedoch nicht einmal ansatzweise zu interessieren schien. „Ich glaube du verstehst nicht, dass ich nicht zum Spaß hier bin, Ivory", knurrte er wütend. „Und du verstehst nicht, dass du endlich diese Wohnung verlassen sollst", sagte Keith hinter mir, der gerade aus seinem Zimmer kam. Kurz endglitten Ilja wirklich alle Gesichtszüge, als er Keith ansah, doch er hatte sich recht schnell wieder gesammelt. „Ich glaube du gehst jetzt besser", sagte Keith zu Ilja, während er sich schützend vor mich schob. Wie dankbar ich ihm in diesen Moment war, konnte ich nicht in Worte fassen, denn ich hatte das Gefühl zumindest wieder etwas besser atmen zu können. „Denk nicht, dass du mich so einfach loswirst, Ivory." Der Unterton in Iljas Stimme, sorgte dafür, dass sich eine Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitete. Umso erleichterter war ich, als er sich umdrehte und ging.

Wortlos schloss Keith die Wohnungstür, bevor er sich zu mir umdrehte und mich besorgt musterte. „Alles okay?", fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. Nichts war okay, rein gar nichts. Mein verdammter Ex-Freund hatte herausgefunden, wo ich wohnte. Er war hier, in der gleichen Stadt wie ich. Meine Hoffnung mein altes Leben in Boston zurücklassen zu können, hatte sich damit wohl endgültig in Luft aufgelöst. Umso länger wir im Flur standen und uns anschwiegen, umso mehr realisierte ich überhaupt erst, was gerade passiert war. Als ich merkte, dass mir die ersten Tränen in die Augen traten und über meine Wange liefen, rannte ich förmlich in mein Zimmer. Ich wollte gerade nicht, dass Keith mich so sah. Niemand sollte mich gerade so sehen. Ich schloss meine Zimmertür hinter mir, bevor ich mich in mein Bett legte und mir die Decke über den Kopf zog. Es fühlte sich so an, als ob mein Schluchzen mit jeder Minute lauter wurde und die Tränen immer mehr. „Ivory?" Keith klopfte von Außen gegen meine Tür, doch ich antwortete nicht. Wie sollte ich ihm denn erklären, dass der Typ, der eben noch vor unserer Tür gestanden hatte, mein Ex-Freund war?

Nach mehreren Versuchen mit mir zu sprechen, hatte Keith es schließlich aufgegeben und war von meiner Zimmertür verschwunden. Als ich kurz darauf wieder die Klingel hörte, beschleunigte sich mein Puls sofort. Von draußen hörte ich Stimmen, die ich jedoch nicht genau zuordnen konnte, bis sich meine Zimmertür öffnete und mein großer Bruder mein Zimmer betrat. „Was machst du hier?", wollte ich von ihm wissen, obwohl ich mir relativ sicher war, dass Keith ihn angerufen hatte. „Keith hat mich angerufen und mir erzählt, dass es dir nicht gut geht. Und dass irgendein Typ vorhin hier vor der Tür stand", antwortete Ash mir, während er sich ans Fußende meines Bettes setzte. Ich seufzte. „Ilja stand vor der Tür, oder?", hakte Ash nach, was mir sofort wieder die Tränen in die Augen trieb. Ich nickte, denn mir war bewusst, dass ich kein vernünftiges Wort herausbekommen würde. „Scheiße", sagte Ashton leise, bevor er mich in seine Arme zog und bei mir wirklich alle Dämme einbrachen. „Er soll endlich aus meinem Leben verschwinden", schluchzte ich. Vor meinem inneren Augen spielten sich die letzten Jahre meines Lebens ab, auch bekannt als meine persönliche Hölle. „Ich werde alles daransetzten, dass er endlich verschwindet, Ivory. Ich verspreche es dir." Ich wusste, dass Ash das vollkommen ernst meinte, trotzdem hatte ich Angst, denn immer genau dann, wenn ich gedacht hatte, dass ich mein altes Leben endlich hinter mir lassen könnte, war Ilja wieder aufgetaucht und hatte mir mein Leben erneut zur Hölle gemacht. „Ich kann das alles nicht noch einmal", murmelte ich leise. Ich hatte die Hölle einmal durchlebt und das hatte mir gereicht. Ich wollte davon keine Wiederholung. „Du musst das auch nicht noch einmal können, Ivory. Ich werde mit Dad telefonieren. Er hat sicherlich eine Idee, was man machen kann", sagte Ash zu mir. Natürlich würde Dad eine Idee haben, das hatte er immer. Und falls nicht, dann hatte sein Anwalt eine Idee. Ein Weg gab es immer, man musste ihn nur finden und das konnte in diesem Fall sehr schwer werden. „Und was ich jetzt sage wird dir sicherlich nicht gefallen, aber du solltest irgendjemandem von unseren Freunden davon erzählen." „Keith weiß es", sagte ich zu Ash, während ich mich aus seinen Armen löste und mich so hinsetzte, dass ich meinem großen Bruder ins Gesicht schauen konnte. „Du hast es Keith erzählt?" Leicht verwirrt schaute Ashton mich an. „Ja, das habe ich", bestätigte ich ihm. „Das ist toll, Ivory", sagte er mit stolzem Unterton in der Stimme zu mir. „Aber weiß Keith auch, dass das dein Ex war, der eben vor eurer Tür stand?", hakte mein Bruder nach. Ich schüttelte den Kopf. „Ich will dich zu nichts drängen, aber vielleicht solltest du mit Keith reden, wenn ich weg bin." Ashton hatte Recht. Ich sollte mit Keith reden, denn er sollte nicht weiterhin im Dunklen darüber tappen, wer vorhin vor unserer Wohnungstür gestanden hatte. Ich hatte es geschafft Keith die ganze Geschichte aus der Vergangenheit zu erzählen, also sollte es wohl nicht so schwer sein, ihm zu gestehen, wer da eben vor unserer Tür gestanden hatte. 

Strong SideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt