-TWENTY-EIGHT-

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Ivory

„Da seid ihr ja endlich. Wir dachten schon ihr kommt gar nicht mehr", begrüßte Nolan uns, als wir mit gerade einmal 5 Minuten Verspätung in die Lobby des Hotels kamen. „Sorry für die Verspätung. Können wir dann los?", antwortete Keith seinem Kumpel. „Wir haben nur noch auf euch gewartet", sagte Ace, bevor wir uns dann auch schon auf den Weg machten. Zum Glück hatte Dad für heute Abend ein Restaurant ausgesucht, was lediglich einige hundert Meter vom Hotel entfernt war. Als wir schließlich im Restaurant ankamen, saß Dad schon mit seiner neuen Freundin und ihren Kindern an einem großen Tisch im hinteren Teil des Restaurant. „Wie schön, dass ihr hier seid", begrüßte Dad uns. „Hi, Dad", murmelten Ash und ich zeitgleich, bevor auch die anderen unseren Vater begrüßten. „Das ist meine Freundin Sandra", sagte Dad zu uns, dabei nahm er die Hand der Frau, die neben ihm stand. Ja, das war die Frau, die heute im Gerichtssaal bei ihm gewesen war. „Freut mich sehr euch endlich kennenzulernen, Ashton und Ivory. Ihr könnt mich ruhig Sandy nennen", sagte sie an Ash und mich gewandt. „Und ihr seid dann wohl die Freunde. Ihr könnt mich aber natürlich auch ruhig Sandy nennen", sagte sie jetzt an die Jungs gewandt. Die Jungs stellten sich auch alle noch einmal vor, dann stellte Sandra uns noch ihre Kinder vor. Als wir uns dann schließlich alle an den Tisch gesetzt hatten, saß ich neben Keith und Ashton, während Dad und Sandra mir direkt gegenübersaßen. „Wie fühlst du dich?", fragte Dad mich. „Besser als erwartet", antwortete ich ihm ehrlich. „Das freut mich, Ivy. Ich bin mir sicher, dass wir dieses Mal gewinnen", sagte er zuversichtlich. „Natürlich gewinnt ihr dieses Mal. Immerhin gibt es dieses Mal mehr Beweise. Vielleicht fällt ja das Schmerzensgeld entsprechend höher aus. Das wäre doch für alle Beteiligten gut", mischte sich Sandra ein. „Die einzige Person, die das potenzielle Schmerzensgeld bekommen wird, ist Ivory", antwortete Ashton ihr. Sandra hatte ganze fünf Minuten gebraucht, um dafür zu sorgen, dass Ash, sie und ich definitiv keine Freunde werden würden. „Ich dachte wir bekommen auch einen Teil", sagte Sandra an unseren Vater gewandt. Ash und ich tauschten einen kurze, aber vielsagenden Blick aus. Wir? In welcher Form genau war sie an den Geschehnissen beteiligt? Welche Folgen hat das alles für sie? „Nein, sollten wir gewinnen, dann bekommt Ivory das Schmerzensgeld", antwortete Dad ihr. „Aber ich dachte mit dem Geld bezahlen wir später das College für meine beiden", sagte sie zu meinem Dad. Den beiden war schon bewusst, dass wir hier saßen? „Das College kriegen wir auch so bezahlt." „Aber", protestierte sie. „Kein aber. Du kennst meine Schwester jetzt seit nicht einmal einer halben Stunde und redest hier davon, was du mit dem Geld machen möchtest, dass Ivy eventuell bekommt, weil sie sexuell genötigt wurde. Wie kann man so sein?", unterbrach Ashton sie. „Ohne mich wäre dieser Fall doch gar nicht erst neu aufgerollt worden", antwortete sie meinem Bruder gereizt. „Wie bitte?", sagten Ash, Keith und ich genau zeitgleich. „Ich habe euren Vater dazu gebracht, dass er aufgrund der neuen Beweise den Fall noch einmal neu aufrollen lässt." Ungläubig schaute ich Sandra an. Hatte Dad das wirklich getan? „Wir können jederzeit gehen, Ivy", flüsterte Keith mir ins Ohr, dabei griff er nach meiner Hand und verschränkte unsere Finger ineinander. „Dad möchtest du uns das vielleicht mal erklären?", sagte Ash sauer zu unserem Vater. „Ich, ähm, naja", stammelte Dad. „Was, Dad? Hast du Ivory wirklich noch einmal durch diese ganze Hölle geschickt, damit die Kinder deiner neuen Freundin irgendwann ganz bequem ohne Geldsorgen aufs College gehen können?", schnauzte mein Bruder. „Ich bezahle euch beiden auch eure Studiengebühr", argumentierte Dad. „Du bezahlst Ivorys Gebühr. Ich habe ein Stipendium, Dad. Davon abgesehen sind wir deine Kinder und wenn du willst, dann zahle ich dir nächstes Jahr, sobald ich in der NFL spiele, sowohl von mir jeden einzelnen Cent, den du mir überwiesen hast, damit ich meine Miete zahlen kann, als auch jeden Cent von Ivory zurück." Mittlerweile hatten wir sicherlich die Aufmerksamkeit von einigen anderen Gästen des Restaurants auf uns gezogen, doch das schien sowohl Ash als auch mir komplett egal zu sein, denn wir wollten eine Antwort. Selbst die Jungs schienen eine Antwort zu wollen. „Raus mit der Sprache, Dad", sagte ich schließlich. Mein Vater sollte wenigstens den Mut haben, um Ash und mir die Wahrheit zu sagen. Dabei war es mir auch völlig egal, dass all unsere Freunde gerade dieses Gespräch mitbekamen. Alles, was ich hören wollte, war die verdammte Wahrheit. „Ich habe Sandra davon erzählt, dass zufällig Beweise gefunden wurden, die das Ende des Falles ändern könnten. Ich wollte zuerst nicht, dass der Fall neu aufgerollt wird. Naja, aber der Gedanke, dass dabei eine ordentliche Summe an Geld herauskommen könnte und man damit die Colleges finanzieren kann", erklärte Dad. „Du schickst deine eigene Tochter durch die verdammte Hölle, damit du die Colleges von den Kindern deiner Freundin finanzieren kannst? Dad, ihre Kinder sind noch nicht einmal zehn Jahre alt. Wer sagt denn, dass ihr bis dahin überhaupt noch zusammen seid? Wie kannst du das deiner eigenen Tochter antun?", sagte Ashton sauer zu unserem Dad. Ash war eigentlich kein Mensch, der schnell aggressiv wurde, aber gerade sah er so aus, als ob er am liebsten unseren Vater verprügeln würde. Dad schaute uns einfach an, ohne irgendetwas zu sagen. „Ihr müsst euren Vater doch verstehen", mischte sich jetzt Sandra wieder ein. „Entschuldigung, aber was genau soll man daran denn verstehen? Wie selbstsüchtig und geldgierig kann man sein, wenn man einen Mensch noch einmal durch die schlimmste Phase seines Lebens schickt, nur damit man selbst Geld kassiert?", kam es von Ace. „Ich glaube wir gehen jetzt besser", beschloss ich schließlich. Ich wollte lieber gar nicht erst darüber nachdenken, wie sehr diese Situation noch eskalieren könnte. Sofort stand Keith neben mir auf und zog mich fast schon mit sich hoch. Die Jungs taten es uns ebenfalls sofort gleich. Lediglich mein Bruder sah kurz so aus, als ob er noch nachdachte, ob es sinnvoll wäre dieses Gespräch weiterzuführen. „Ivory", sagte Dad mit reuevollem Unterton zu mir. „Nein, Dad. Nicht jetzt. Wir reden wieder, wenn du dir mal Gedanken darüber gemacht hast, was dein Handeln für Auswirkungen hat. Bis dann", sagte ich zu ihm. Dann verließ ich ohne Sandra oder ihre Kinder noch eines Blickes zu würdigen das Restaurant. Keith lief dicht hinter mir und sobald wir draußen waren, hatte ich das Gefühl endlich wieder frei atmen zu können. „Ich glaube einfach nicht, dass unser Vater sich so hat manipulieren lassen, verdammt nochmal", fluchte Ashton, als er gemeinsam mit den Jungs kurz nach uns aus dem Restaurant kam. „Können wir bitte einfach ins Hotel und nicht weiter darüber reden", sagte ich müde. Ich ließ mich gegen Keith sinken, der sofort seinen Arm um mich schlang und mich an sich zog.

Im Hotel angekommen, machte ich mich in Rekordzeit bettfertig, bevor ich mich dann schließlich unter die Bettdecke verkroch. Dieser Tag war für mich auf jeder Ebene einfach viel zu viel gewesen. Erst noch einmal meine Vergangenheit vor Augen geführt zu kriegen und danach noch zu erfahren, dass mein Vater den Fall nur deshalb neu hatte aufnehmen lassen, weil seine neue Freundin das wohl für eine gute Idee gehalten hatte, hatte mir alles abverlangt. Am liebsten hätte ich jetzt auf der Stelle geweint, aber es ging nicht. Mein Kopf war viel zu sehr damit beschäftigt die Ereignisse des heutigen Tages zu verarbeiten. Eine Sache hatte ich jedoch jetzt schon fest beschlossen. Sobald wir zurück in San Francisco waren, würde ich eine neue Therapie anfangen, um endgültig mit allem abschließen zu können. Die Matratze neben mir senkte sich, als Keith sich zu mir ins Bett legte. Wortlos kuschelte ich mich an ihn, während er genauso wortlos seine Arme um mich schlang. Zumindest hatte ich bei Keith das Gefühl in Sicherheit zu sein. Müde schloss ich meine Augen. Mit ziemlicher Sicherheit konnte ich sagen, dass ich noch nie in meinem gesamten Leben so erschöpft gewesen war, wie heute. Das letzte, was ich mitbekam, bevor ich schließlich einschlief, war dass Keith mir einen Kuss auf den Scheitel drückte.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, denn in wenigen Sekunden würde die Richterin das Urteil verkünden. Ich saß neben meinem Anwalt, während die Jungs allesamt in der ersten Reihe saßen. Dad hatte es tatsächlich fertiggebracht hier heute mit Sandra aufzutauchen, hatte sich jedoch mit ihr in die letzte Ecke gesetzt, nachdem er sich einen bösen Blick von Ashton gefangen hatte. Wie auch schon gestern saß Ilja mit seinem Anwalt schräg gegenüber von mir. Auch seine Eltern waren heute im Publikum. „Der Angeklagte wird aufgrund der belastenden Beweislage zu einer Bewährungsstrafe von 2 Jahren, sowie zu einem Schmerzensgeld von 600 tausend Dollar verurteilt. Damit ist dieser Fall abgeschlossen. Einen angenehmen Tag noch", verkündete die Richterin das Urteil, bevor sie sich von ihrem Platz erhob und den Saal verließ. Es dauerte einen Moment, bis ihre Worte bei mir angekommen waren. Ilja war schuldig gesprochen worden? Ich hatte gewonnen? Wie in Trance drehte ich mich zu den Jungs um, die in diesem Moment von ihren Plätzen aufstanden. Ich stand ebenfalls auf. Mein großer Bruder kam schon beinahe auf mich zu gerannt, bevor er mich in seine Arme zog. „Du hast es geschafft, Ivory", flüsterte Ash mir zu. Diese Worte reichten aus, damit mir Tränen in die Augen schossen und ich anfing zu weinen. Verdammt ja. Ilja würde endlich seine gerechte Strafe bekommen und ich konnte endlich mit meiner Vergangenheit abschließen. Ich vergrub mein Gesicht an der Brust meines großen Bruders und weinte. Ash hielt mich einfach nur fest. „Ich bin so stolz auf dich, Ivory." Als ich meinen Blick hob und direkt in sein Gesicht schaute, sah ich, dass Ash ebenfalls weinte. „Ash", schluchzte ich. „Ich bin einfach nur froh, dass du all das endlich hinter dir lassen kannst", sagte er zu mir. Genau in diesem Moment wurde mir bewusst, wie sehr Ash die letzten Jahre gelitten hatte. Er hatte mit ansehen müssen, wie Ilja in gewisser Weise mein Leben zerstört hatte und er hatte nichts dagegen tun können. Er war jeden Tag an meiner Seite gewesen und hatte mich so gut wie möglich unterstützt, selbst als wir in zwei unterschiedlichen Bundesstaaten gewohnt hatten. „Ich habe dich lieb, Ash", sagte ich leise zu ihm. „Ich habe dich auch lieb, Ivory." Ich löste mich aus den Armen meines Bruders, denn es gab da noch einige andere Leute, die ich dringend umarmen wollte. „Gruppenumarmung", rief Ace, bevor ich überhaupt die Chance hatte die Jungs einzeln zu umarmen. Glücklicherweise schaffte Keith es gerade noch so mich an sich zu ziehen, bevor die anderen die Gruppenumarmung starteten. „Ich hab euch lieb, Jungs", sagte ich, als wir uns aus der Gruppenumarmung lösten. „Wir dich auch", antworteten Nolan, Ace und Cooper im Chor. „Können wir dieses Gebäude bitte endlich verlassen", sagte ich anschließend. „Natürlich. Lasst uns ins Hotel fahren und unseren Sachen packen, dann können wir theoretisch sogar schon heute Abend zurückfliegen", schlug Ash vor. Da wir nicht genau gewusst hatten, wie lange alles dauern würde, hatten wir noch keinen Rückflug gebucht, jedoch hörte es sich verlockend an schon heute zurück nach San Francisco zu fliegen. Wir alle wollten wohl nicht mehr Zeit als nötig in Boston verbringen. Gerade als wir den Gerichtssaal verließen, rief Dad hinter uns nach Ashton und mir. Seufzend drehten wir uns zu unserem Vater um, der natürlich mitsamt Sandra auf uns zukam. „Wollen wir heute Abend alle gemeinsam Essen gehen und feiern?", fragte Dad uns. „Jetzt ist doch alles wieder gut. Wir haben gewonnen, das muss man doch feiern", fügte Sandra lächelnd hinzu. Unweigerlich versteifte ich mich bei ihren Worten. Was sollte man denn feiern? Still und heimlich griff Keith nach meiner Hand und verschränkte unsere Finger miteinander. „Wir fliegen zurück nach San Francisco. Es gibt nichts zu feiern", antwortete ich beiden. „Ivory", sagte Dad tadelnd zu mir. „Nein, Dad. Meine Worte von gestern Abend gelten immer noch. Wir sehen uns", antwortete ich ihm, bevor ich mich umdrehte und den Saal endgültig verließ. Ich wollte hier einfach nur noch weg. Ich wollte zurück nach Hause, nach San Francisco. 

Strong SideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt