Ivory
Zurück in der WG wartete direkt die nächste Überraschung auf mich, denn vor unserer Wohnungstür saß niemand geringeres als mein Vater. „Dad? Was machst du denn hier?", fragte ich ihn verwirrt. Ja, Ash hatte zwischendurch einmal erwähnt, dass unser Vater eventuell mal in San Francisco vorbeischauen würde, allerdings hatte ich damit gerechnet, dass er sich vorher ankündigen würde. Und mir wäre es auch deutlich lieber gewesen, wenn er sich angekündigt hätte. „Ich muss mit dir sprechen, deshalb bin ich hier, Ivory", antwortete er mir, danach begrüßte er kurz Keith, welcher kurz darauf in der Wohnung verschwand. „Lass uns einen kleinen Spaziergang machen, dann können wir reden", sagte Dad zu mir. „Weiß Ash, dass du hier bist?", hakte ich nach. „Nein. Ich habe Ashton zwar gesagt, dass ich irgendwann in nächster Zeit vorbeikommen werde, aber nicht wann genau." „Okay. Dann lass uns losgehen und wir reden darüber, was so wichtig ist", sagte ich zu ihm. „Ashton und du müsst mit mir nach Boston fliegen", eröffnete Dad mir. „Was?" Verwirrt schaute ich meinen Vater an. Ich sah absolut keinen Grund, wieso wir nach Boston fliegen sollten. „Ich sag dir das wirklich ungern, Ivory, aber das Verfahren wegen dem, was Ilja dir angetan hat, wird wieder aufgenommen", ließ Dad die Bombe platzen. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Sprachlos schaute ich meinen Vater an. „Ilja hat eine weitere Anzeige wegen sexueller Nötigung am Hals. Dieses Mal gibt es eindeutige Beweise. Und es sind Kontoauszüge aufgetaucht, aus denen hervorgeht, dass Iljas Vater damals eine große Summe Geld an die Putzfrau deiner Mutter überwiesen hat, die zu der Zeit, als er dir das angetan hat, bei euch war. Die Chancen den Fall zu gewinnen, stehen gut. Vor allem wenn man bedenkt, dass Ilja hier aufgetaucht ist, um dich einzuschüchtern", erklärte Dad mir. „Wie-wie lange wird der Prozess dauern?", fragte ich ihn. Ich hatte wirklich mit vielen Dingen gerechnet, die Dad mir erzählen würde, aber definitiv nicht mit so etwas. „Der Prozess ist für zwei, maximal drei Tage angesetzt", antwortete Dad mir. „Was ist mit all den Sachen, die Ilja jetzt gemacht hat? Er hat mir selbst auf dem Campus aufgelauert, um mich einzuschüchtern", erzählte ich Dad. „War jemand dabei?", hakte er nach. „Nolan war dabei und Keith und Ashton kamen genau in dem Moment dazu, als Ilja damit gedroht hat Mom nach San Francisco zu holen." „Wenn Nolan und Keith beide aussagen würden, dann könnte das enorm helfen. Ashton wird so oder so aussagen", sagte Dad. Ich seufzte. „Ich weiß, dass das jetzt plötzlich kommt, Ivory. Aber wir müssen diese Chance nutzen. Ich werde Ilja nicht noch einmal damit davonkommen lassen, dass er dir das Leben zur Hölle gemacht hat. Ich werde morgen mit Ashton reden. Wahrscheinlich fliegen wir Sonntag, da er Samstag noch ein Spiel. Euer Hotel habe ich schon gebucht", erklärte er mir. Zwar verstand ich, dass Dad es noch einmal versuchen wollte, aber ich hätte gerne etwas mehr Mitspracherecht gehabt. „Hotel?" Unser Vater lebte in einem Haus mit mehr als genug Zimmern, wieso also brachte er uns in einem Hotel unter? „Ich erkläre euch morgen, wieso ihr in einem Hotel schlaft." Nachdem Dad mich wieder nach Hause gebracht hatte, blieb ich noch eine Sekunde vor unserer Wohnungstür stehen, um zu realisieren, was er mir eben erzählt hatte. Das musste einfach ein ganz schlechter Traum sein. Ich wollte all das nicht noch einmal erleben, aber scheinbar blieb mir keine andere Wahl. Als ich schließlich unsere Wohnung betrat, kam Keith sofort aus seinem Zimmer. „Alles okay?", fragte er mich besorgt. Ich schüttelte den Kopf. „Das Verfahren wegen Ilja wird wieder aufgenommen", antwortete ich ihm. „Was?" Keith schaute mich an, als ob er mich nicht richtig verstanden hätte. „Es sind neue Beweise aufgetaucht und die Tatsache, dass er hier in San Francisco ist und mich gesucht hat, könnte für ein anderes Ende sorgen. Scheint also so, als ob Ashton und ich nächste Woche nach Boston fliegen", erklärte ich ihm. „Nächste Woche schon?" „Ja. Dad dachte wohl es wäre gut, wenn er erst kurz vor knapp damit um die Ecke kommt." „Scheiße, Ivory. Was ist mit Nolan und mir? Wir waren dabei, als Ilja dich hier in San Francisco gefunden hat. Würden unsere Aussagen etwas bringen?", hakte er nach. „Wahrscheinlich schon, aber ich möchte euch nicht in die Sache reinziehen. Also müsst ihr nicht mitkommen, aber ihr könnt natürlich." „Natürlich komme ich mit. Verdammt, wenn meine Aussage dabei helfen kann, dass Ilja endlich zur Rechenschaft gezogen wird, dann sage ich auch 100-mal aus", sagte er aufgebracht. „Danke, Keith", sagte ich zu ihm, während er mich in seine Arme zog. „Du musst das nicht allein durchstehen, Ivy. Ganz egal, ob ich aussagen soll, oder nicht, ich komme mit nach Boston, wenn du das möchtest." Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Die Tatsache, dass Keith so bedingungslos für mich da war, machte etwas mit mir. „Ich möchte, dass du mitkommst", sagte ich zu ihm. Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Dann komme ich mit", sagte er zu mir, bevor er mir einen Kuss auf die Stirn gab.
Am nächsten Tag trafen Ashton, Keith, Dad, Nolan und ich uns schließlich bei meinem Bruder in der Wohnung. Ich war müde, denn ich hatte höchstens drei Stunden geschlafen. Den Großteil der letzten Nacht hatte ich wach in meinem Bett gelegen, bevor ich irgendwann zu Keith gegangen war. Zumindest in seinen Armen hatte ich dann ein bisschen Schlaf bekommen. Doch wenn ich Keith so anschaute, dann sah es nicht so aus, als ob er viel mehr als ich geschlafen hätte. „Das meinst du nicht ernst", sagte Ashton zu unserem Vater, nachdem er den anderen die Situation erklärt hatte. „Doch, Ashton. Ich meine das vollkommen ernst", antwortete er ihm. Ash schüttelte ungläubig den Kopf. „Du hast das Verfahren neu aufnehmen lassen, ohne Ivory zu fragen, ob sie das möchte", raunte Ash unseren Vater an. Ashton hatte Recht. Dad hatte mich mit keinem Wort gefragt, ob ich das wollte. „Wir wissen beide, dass sie es wahrscheinlich nicht gewollt hätte, also habe ich ihr diese Entscheidung abgenommen", sagte Dad. Ja, ich hätte es wahrscheinlich nicht gewollt, denn ich wollte diesen ganzen Prozess nicht noch einmal durchleben müssen. Der Gerichtsprozess war für mich damals genauso schlimm gewesen, wie das, was Ilja mir angetan hatte. „Und es wäre ihr gutes Recht gewesen es nicht zu wollen, Dad. Ivory hat bei ersten Prozess schon seelisch genug gelitten. Wieso schickst du sie also noch einmal durch diese Hölle?", hakte Ashton nach. „Wenn wir dieses Mal gewinnen, dann wir Ilja eine hohe Summe an Schmerzensgeld bezahlen, davon hätte jeder von uns etwas." Entsetzt schauten wir alle Dad an. „Jeder von uns? Wenn jemand das Schmerzensgeld bekommt, dann ist das einzig und allein Ivory. Sonst niemand." Hatte mein Vater wirklich das Verfahren neu aufnehmen lassen, nur um etwas von dem Schmerzensgeld zu bekommen, sollten wir gewinnen? Dad verdiente mit seinem Job mehr als genug Geld, wieso also sollte er das Schmerzensgeld wollen? „Wie auch immer. Ich muss noch über etwas anderes mit euch reden", wechselte Dad abrupt das Thema. Bevor er jedoch damit anfangen konnte, verabschiedete sich Nolan von uns, da er noch mit Ace und Cooper verabredet war. „Ihr werdet alle in einem Hotel schlafen." „Wieso? Dein Haus ist doch groß genug", gab Ash zurück. Mein Bruder war so sauer, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er unserem Vater an die Kehle gegangen wäre. „Meine Freundin und ihre zwei Kinder wohnen jetzt bei mir, also ist dort kein Platz mehr für euch." „Was?" Irritiert schaute ich Dad an. Seit wann genau hatte unser Vater eine Freundin? „Willst du mich verarschen? Seit wann hast du eine Freundin?", fragte Ashton ihn sauer. „Seit ungefähr einem Jahr", antwortete Dad ihm entspannt. „Du hattest eine Freundin, während ich noch in Boston gewohnt habe und hast mir davon nichts gesagt?", fragte ich ihn nun. Das musste alles ein ganz schlechter Scherz sein. „Ich wollte erst einmal abwarten, ob das mit ihr hält, bevor ich es euch erzähle", versuchte er sich herauszureden, was jedoch nur dafür sorgte, dass Ashton und ich noch saurer wurden. „Zu der Zeit, wo ich nach San Francisco gezogen bin, wart ihr schätzungsweise schon ungefähr ein Jahr zusammen und jetzt willst du mir sagen, dass du erst einmal abwarten wolltest, ob es hält?" Wem wollte er denn etwas vormachen? Er hatte uns absichtlich nichts von seiner Beziehung erzählt. „Ivory, hör auf mir vorzuwerfen, dass ich euch so etwas bewusst vorenthalten habe", sagte Dad lauter als nötig zu mir. „Wieso? Sag mir einen Grund, wieso du deine Beziehung über ein Jahr vor deinen eigenen Kindern geheim hältst", forderte ich ihn auf, während ich von der Couch aufstand, denn ich wollte meinen Vater keine Minute länger ansehen. Als Dad schwieg, anstatt mir eine Antwort zu geben, verließ ich das Wohnzimmer. Er hatte sowohl Ashton und mich von klein auf so erzogen, dass wir niemals jemandem etwas bewusst verheimlichen sollten und dann tat er genau das. Er verheimlichte uns seine Beziehung. Keith kam mir hinterher. Die Sorge in seinem Blick, sorgte dafür, dass sich Tränen in meinen Augen sammelten. Wortlos zog er mich an sich, während ich weinte. Ich krallte mich in seinem Shirt fest, während mein Körper bebte. Es war alles zu viel für mich. Erst die Tatsache, dass der Prozess neu aufgenommen werden würde, dann dass Dad uns bewusst etwas verheimlicht hatte. Jedes Mal, wenn ich ihn gefragt hatte, ob er jemanden kennengelernt hatte, hatte er die Frage verneint, nur um jetzt die Bombe platzen zu lassen. „Ich hab dich", flüsterte Keith mir zu, dabei zog er mich fester an sich. Im Hintergrund nahm ich wahr, wie Ashton unserem Vater sagte, dass er gehen solle, bevor er noch ein nettes „Ich schwöre dir, Dad, wenn du auch nur einen Cent des Schmerzensgeld, was Ivory bekommen könnte in deine eigene Tasche steckst, dann hetzte ich dir die besten Anwälte der Staaten oder der ganzen Welt auf den Hals", hinterher schoss.

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Strong Side
Romance*Triggerwarnung, diese Geschichte enthält sensible Inhalte* Als Ivory nach San Francisco zieht, hat sie genau ein Ziel. Ihr altes Leben endgültig hinter sich lassen. Sie zieht in die alte WG ihres Bruders und lebt dort gemeinsam mit Keith, dem beste...