Kapitel 22

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A D E L I N E

„Was? Also du warst das nicht?"
Mit geweiteten Augen schaue ich Clary dabei zu, wie sie vor dem Käfig von Micky sitzt und ihn so betrachtet, als wäre er ein Außerirdischer. Sie schüttelt den Kopf, allerdings ohne mir irgendein Zeichen von Aufmerksamkeit zu geben. Die gehören ganz allein Micky, welcher grade in sein Wasser zu baden scheint. Kurz ziehen sich meine Mundwinkeln nach oben, ehe ich wieder in Gedanken bin. Also hat mich Aiden gestern verarztet, stelle ich entgeistert fest. „Was hast du denn da gemacht, Adeline?", fragt sie mich, als sie mir nun endlich ihre Aufmerksamkeit widmet und zu mir schaut. Nervös halte ich inne und ich beiße mir unauffällig auf die Unterlippe, während ich mir versuche schnell eine Ausrede auszudenken.
Meine Augen gleiten zu ihren, die mich neugierig und wartend anstarren. Hab ich nur so das Gefühl oder ist sie mir näher gekommen?
„Ähm... ich bin gestern gegen die Kante gestoßen. Hat nur bisschen geblutet.", Lüge ich und zeige ohne sie weiterhin anzusehen auf die Bettkante welche nicht einmal Spitz ist. Verdammt!
Schlecht im lügen war ich schon immer, denn ich mag es nicht gerne die Unwahrheit zu sagen. Allerdings will ich ihr trotzdem nicht erzählen, was gestern vorgefallen ist, bevor sie mich noch als verrückt abstempelt. Und so lange kenne ich Clary nun auch nicht, um mit ihr darüber zu reden.
Ihre eine Braue, die sich langsam in die Höhe zieht, zeigt mir, dass sie mir ganz und gar nicht glaubt. Wer würde denn sowas auch glauben, also bitte...
„Gegen die Kante hier, ja?", will sie nochmal kritisch sichergehen, woraufhin ich diesen intensiven Augenkontakt mit ihr abbreche und nicke.
„Und das musste Aiden anscheinend persönlich verarzten? Weil du nur gegen die Kante gestoßen bist, Adeline?" Ich schaue immer noch nicht zu ihr und tue stattdessen so, als wäre diese Wasserflasche vor mir plötzlich das interessanteste was es gibt. Mit den Schultern beginne ich zu Zucken, weshalb sie leicht lachend den Kopf zu schütteln beginnt.
„Na gut", seufzt sie und gibt endlich auf, dabei dreht sie sich wieder zu Micky, der scheinbar fertig mit seinem Bad ist.
Ich habe das Gefühl, Clary hat in ihren ganzen Jahren noch nie ein Vogel zu Gesicht bekommen. Denn die Art wie sie ihn anstarrt ist echt seltsam und wäre ich Micky, würde ich mich erschrecken.
Lächelnd betrachte ich sie, denn diese Clary ist irgendwie nicht die, die ich vor zwei Tagen ernst sitzend vor mir gesehen habe. Es ist eine andere und irgendwie eine... schönere. Zwar hat sie auch sonst immer gelächelt und mit mir liebevoll geredet, doch jetzt sehe ich auch ihre verrückte und farbenfrohe Seite. Es ist, als würde sie sich verstellen können. Denn gestern, als sie mir beim Kleid geholfen hatte, war sie genauso wie jetzt. Lustig und so... jung. Man würde niemals auf den Gedanken kommen, dass sie verheiratet wäre. Doch dann als wir auf dieser grauenvollen Veranstaltung voller reiche Flöten waren, war sie plötzlich wieder die verheiratet Clary Harris, die elegant und ruhig mit den Menschen sprach, als könnte sie nichts anderes. Ich wünschte, dass ich auch so wäre. Dass ich mich anpassen kann, egal wo oder wen. Dann hätte ich wahrscheinlich all diese Probleme nicht.
„Und dieses Ding hast du schon seit wievielen Jahren?", reißt sie mich aus meiner Gedankenwelt. Einige Male blinzle ich und realisiere, dass sie Micky grade „Ding" genannt hat. Fast hätte ich sie böse angefunkelt, doch ich zügle mich rechtzeitig und gebe nur eine knappe Antwort von mir.
„6 Jahre" Erstaunt weitet sie die Augen und nickt, während sie mit ihren Lippen stumm das Wort „Wow" formt. Gerade, wo ich noch einen Satz hinzufügen will, schließe ich mein Mund wieder und seufze. Das Gefühl von Trauer umgibt mich plötzlich und ich schaue links aus dem Fenster. Clary scheint das aber bemerkt zu haben, denn zwischen ihre Augenbrauen bildet sich eine Furche und sie schaut mich erwartungsvoll an, was ich vom Augenwinkel klar erkennen kann. „Es ist nur... mag sein, dass Micky für andere nur ein gelber Vogel ist...", fange ich an und lache leise auf. Clary's Blick wendet sich immer noch nicht ab, als ich sie angucke. „Doch er bedeutet mir nun mal alles, denn Ethan... hat ihn mir geschenkt. Und es ist das einzige, was ich noch von ihn habe.", hauche ich zum ende hin, wobei ich merke, wie Clary's weicher Blick nun Härte annimmt. Allerdings wundere ich mich kaum, denn ich habe schon lange gemerkt, dass alle hier ganz offensichtlich meinen Bruder hassen. Wieso? Das würde ich nur zu gerne wissen, doch im Moment will ich einfach nicht über diese Themen reden. Ich bin verdammt froh darüber, dass ich jetzt wenigstens etwas zum Lächeln habe und das will ich mir auf keinen Fall versauen.
Also hole ich tief Luft und zwinge meine Mundwinkeln in die höhe zu wandern, während ich mich erhebe und auf Micky zulaufe. Ich öffne ihn den Käfig und augenblicklich steht Clary von dem Stuhl auf, auf dem sie saß. Verwirrt verfolgt sie was ich mache, ohne zu fragen. „Wie soll ich mich bei ihn bedanken?" spreche ich die Frage aus, die ich mich schon seit heute morgen frage. „Was?", murmelt sie irritiert. Mit Micky auf der Hand drehe ich mich zu ihr. „Na, wie ich mich bei Aiden bedanken kann?"
Verstehend nickt sie und scheint zu überlegen. Doch wie es aussieht, fällt ihr wohl nichts ein, genauso wie mir. Was kann ich ihn nämlich tun? Nichts.
„Ein Danke würde reichen, denk ich mal.", antwortet sie und setzt sich auf das Bett, während ich mit Micky anfange mich im Zimmer zu bewegen. Denn das brauche ich dringend. Mein Körper ist es nicht gewohnt immer nur zu sitzen und zu liegen und damit ich es wenigstens noch einigermaßen schaffe fit zu bleiben, laufe ich in letzter Zeit gerne im Zimmer rum. „Aber..."
Ich bleibe stehen und sehe zu ihr, dabei macht sie es sich im Scheidersitz bequem und starrt mich aus ihren blauen Augen an. „Ich trau mich nicht.", gebe ich leise zu und drehe leicht beschämt den Kopf zu mein Vogel, der plötzlich anfängt wieder loszusingen. Ich denke, es ist kein großes Geheimnis dass ich mich vor Aiden fürchte. Sogar sehr... aber überraschend hebe ich den Kopf hoch, als Clary anfängt zu lachen. Und das ziemlich laut, sodass ich verwirrt meine Augenbrauen zusammenziehe. Sie scheint jedoch relativ schnell bemerkt zu haben, dass ich das wirklich ernst meine und verstummt von der einen zu der nächsten Sekunde. „Also ja, Aiden ist manchmal ziemlich...", fängt sie an und stoppt, als sie ein Finger an ihren Lippen tut und überlegend in die Luft schaut, bis sie das richtige Wort findet. „grob.", ruft sie und spricht dann weiter. „Aber eigentlich ist er nicht so. Ich denke es liegt nur an der Situation."
Sie nickt eifrig und beobachtet Micky dabei, wie er an meinen Fingern knabbert. An der Situation?
Schluckend schaue ich ebenfalls zu Micky und versuche so gut es geht uninteressiert zu wirken, während ich die kommende Frage stelle.
„Wie ist er denn eigentlich... so?"
Zum Glück bemerkt sie nicht, wie brennend es mich eigentlich interessiert und überlegt für einige Sekunden. Denn in Wahrheit frage ich mich tatsächlich ziemlich oft, wie er denn sonst so drauf ist. Es ist doch nämlich unmöglich, dass er immer so angespannt und mit harten Gesichtszügen durch die Gegend läuft. Neugierig warte ich auf ihre Antwort.
„Naja, Aiden ist ziemlich kompliziert, aber eigentlich ist er ein wundervoller Mensch. Er ist liebevoll und hat ein großes Herz, auch wenn es dir wahrscheinlich nicht so erscheint. Er liebt seine Familie und mit ihn kann man eigentlich richtig viel Spaß haben." Aufmerksam höre ich ihr zu und bin beinahe geschockt. Alles was sie grade aufzählt, will sich nicht zu dem Bild von Aiden in meinem Kopf anpassen. Aiden, der furchteinflößende, aggressive, Handgreifliche Mann, soll ich mir nun liebevoll und spaßig vorstellen?
Ich habe das Gefühl, dass Clary sich möglicherweise verhört hat und Liam verstanden hat. Denn von Liam kann ich mir das alles vorstellen, allerdings nicht von seinem Bruder.
Clary scheint meinen verwunderten Blick bemerkt zu haben denn sie streicht sich schmunzelnd die Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Komm, wir schreiben ihn ein Zettel." Sie steht auf und mit meinen Augen folge ich ihr verwirrt, während sie nach einem Blatt greift und sich nun erwartungsvoll zu mir dreht. Doch ich rühre mich nicht. „Na, wenn du ihn schon nicht persönlich danken kannst, dann schreib es ihn wenigstens.", erklärt sie und deutet auf das Blatt in ihrer Hand, als sie meinen Blick bemerkte. Oh, das ist eine Gute Idee!
Nun dauerte es auch nicht lange und wir schafften es, nach kurzem Zögern von mir, etwas auf das Blatt zu schreiben. Clary nahm das Blatt und brachte es, wie sie es mir meinte, zu Aiden in das Zimmer. Jetzt warten wir nur noch auf Aiden, der wohl heute mit seiner Schwester Ashley den Tag verbringt, da Freitag der feste Tag von Aiden und ihr sei, so wie es mir Clary erzählt hat. Auch das ließ mich überrascht die Brauen heben. Ich bot Clary auch schon an zu gehen, denn Liam wartet sicherlich schon sehnsüchtig auf sie, so wie er sie immer anguckt, denkt man, er kann es keine Sekunde ohne sie aushalten. Doch sie will mich nicht alleine lassen und vor allem jetzt, wo Sophia nicht da ist. Wir aßen zusammen und redeten viel, obwohl ich sie eigentlich nur mit Fragen bombardierte, was sie und Liam angeht. Vielleicht kommt es ein wenig aufdringlich rüber, doch es schien sie kaum zu stören, denn das Lächeln, welches sich in ihr Gesicht schmückte, verließ sie keine Sekunde. Und auch mir wurde bei ihren Erzählungen ganz warm ums Herz.
Was ich doch alles nur dafür geben würde, um genauso geliebt zu werden...
Als Aiden und auch Ashley hier ankamen, blieb Clary nur eine viertel Stunde und schon verließ sie mich. Ich bin ihr ziemlich dankbar. Dankbar dafür, dass sie mich nicht alleine lassen wollte, vor allem nach gestern. Und beinahe hätte ich dank ihr vergessen, was gestern tatsächlich geschehen war. Ich hatte nicht einmal Zeit, darüber nachzudenken. Nun, wo ich jedoch wieder alleine bin und auf dem Bett sitze, während Micky im Zimmer rumfliegt, kommt mir einiges wieder hoch. Und ich wünsche mir direkt, dass Clary hier wäre, um mich mit ihren Geschichten und verrückten Sätzen abzulenken. Wobei ich Sophia ebenso ganz doll vermisse und die Tage zähle, bis sie nun endlich wieder kommt.
Langsam spüre ich die vielen Emotionen, die in mir aufkommen und der stechende Schmerz, welcher sich in meine Brust breit macht. Seufzend lasse ich meine Hände in meine offenen Haare fahren, während ich erschöpft die Augen schließe. Nicht erschöpft, weil ich heute irgendwas anstrengendes getan habe, nein. Sondern erschöpft, weil ich jetzt schon weiß, was erneut auf mich zukommen wird. Und ich bin ganz und gar nicht bereit, es noch einmal zu erleben. Ich sehe ihre Augen, wie sie in meine sahen. Ohne Reue und ohne Scham. Kein Funken an Freude... nur pure Überraschung und gleichzeitig auch Trauer. Die Überraschung war wohl er wegen der angeblichen Beziehung von mir und Aiden Harris und die Trauer wahrscheinlich, weil sie solch einen Tag nicht wieder erleben wollten... oder? Jedenfalls sah ich das bei meiner Mutter. Was ich allerdings bei Charles, meinem Vater sah, war Hass. Hass und ein wenig Skepsis spiegelten sich in seinen grünen Augen.
Augenblicklich werde ich von meinen Gedanken gerissen und ich merke erst, dass meine Sicht verschwommen ist, als es zu klopfen beginnt. Ehe ich jedoch ein Laut von mir gebe, öffnet sie sich schon. Aiden... Schluckend richte ich mich ein wenig auf und schaue mit leichter Nervosität in seine Richtig, als nun sein Blick auf mir liegt.

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