Kapitel 1

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A D E L I N E

Meine Lungen brennen, meine Muskeln sind verspannt, und die Angst hat sich in weniger als Sekunden bis in mein Knochenmark gefressen.

Gleichgültig, wie viel Panik mich gerade überkommt, zwingt mein Wille meinen Körper weiterzulaufen – fast schon zu rennen. Mit jedem Schritt werden meine eiskalten Füße schneller und kraftvoller. Meine Augen sind durch die Kälte völlig ausgetrocknet und schmerzen qualvoll.

Angestrengt bemühe ich mich, sie offen zu halten, um in der Dunkelheit nicht gegen einen Baum oder Ähnliches zu stoßen. Da ich diesen Waldweg jedoch in- und auswendig kenne, weiß ich genau, dass vor mir nichts sein sollte. Es ist ein breiter, freier Weg zwischen den hohen Bäumen... zumindest hoffe ich das. Sicherheitshalber öffne ich meine Augen noch weiter und versuche, das Brennen zu unterdrücken. Die Äste unter meinen Füßen knacken, während der Wind mich regelrecht nach vorne stößt, sodass ich manchmal das Gefühl habe, mit meinem Gesicht auf der nassen Erde zu landen. Ich bemühe mich, mein Keuchen in diesem Tempo unter Kontrolle zu behalten, was ziemlich anstrengend ist.

Erneut erfüllt ein Schrei den sonst so verlassenen Wald, den ich jede Nacht entlanglaufe. Doch diesmal ist er noch lauter. Es fühlt sich an, als hätte ich das Atmen verlernt. Das Laufen auch. Ich bleibe augenblicklich stehen und versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Ich rede mir immer wieder ein, dass es nur meine verfluchte Angst ist, die wieder mit meinen Nerven spielt.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich Stimmen, Schreie oder Geflüster höre, obwohl ich eigentlich alleine bin. Doch diese Situation ist anders als alles zuvor. Die Dunkelheit, die hohen Bäume und die Kälte um mich herum machen alles noch schlimmer.

Langsam und unsicher zwinge ich meine Beine wieder zur Bewegung. Konzentriert halte ich den Atem an, sauge die kühle Abendluft in meine Lungen und lausche meinem schnellen Herzschlag. Vielleicht hilft es, mich zu beruhigen. Sobald ich mich ein wenig gefasst habe und mein Blick starr nach vorne gerichtet ist, höre ich erneut einen schrecklichen Klang.

Es ist ein männlicher Schrei. Diesmal bin ich mir sicher. Und ohne es richtig mitbekommen zu haben, beschleunigt sich mein Gang automatisch.

Das Schlimmste daran ist, dass ich nicht einmal sicher weiß, ob es real ist oder sich nur in meinem Kopf abspielt. Das Gefühl ist schrecklich und raubt mir immer mehr mein ohnehin schon schwaches Selbstbewusstsein. Mein Körper zittert, und er wird mich bald nicht mehr tragen können vor Angst. Meine langen, braunen Haare flattern vor mein Gesicht und verschwimmen meine Sicht weiter. Mittlerweile sind meine Augen nass, obwohl ich dachte, sie würden eher vor Trockenheit platzen.

Noch ein Schrei.

Noch mehr Angst und Panik. Wimmernd beginne ich zu rennen und halte die Luft an, da meine Lungen vor Schmerzen fast platzen, nachdem sie vorher stockend und keuchend gearbeitet haben. Doch der Schmerz wird noch größer, als mir bewusst wird, dass dies nicht mein gewohnter Heimweg ist. Ein helles Licht scheint von vorne und gibt mir einen Blick auf den Rest des Waldes.

Ich habe mich in all meiner Beklommenheit verlaufen...

Tränen rollen über meine kalten und schon tauben Wangen, und ein leises Keuchen entweicht mir, als ich ein Gebrüll höre, das aus Richtung des Lichts kommt. Anstatt auf meine innere Stimme zu hören und umzukehren, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Wahrscheinlich werde ich es später bereuen, aber im Moment kann ich einfach nicht umkehren. Es ist, als würden sich meine Beine weigern, weiterzulaufen. Auch Weggucken kann ich nicht mehr, als ich drei Männer mit dem Rücken zu mir stehen sehe.

Ihre Haltung ist aufrecht, und sie starren starr auf den Boden. Auch ich schaue zitternd nach unten und schlucke, nachdem ich einen blutverschmierten Mann knien sehe. Das Licht blendet zu sehr, als dass ich ihn genauer betrachten könnte. In Gedanken stelle ich mir bereits vor, wie sich die Dinge gleich entwickeln werden. Warum hier die ganze Zeit schmerzerfüllte Geräusche durch die Gegend hallen. Aber trotzdem stehe ich zitternd da, überwältigt von Angst. Wahrscheinlich habe ich mich schon längst in die Hose gemacht, ohne es zu bemerken. Mein feiner Instinkt flüstert mir zu, dass ich helfen soll. Doch der große Weichei in mir, der normalerweise immer gewinnt, weigert sich. Er zwingt mich, wegzulaufen, aber anstatt auf ihn zu hören, bleibe ich wie angewurzelt stehen.

Nach einer weiteren Minute, die sich wie eine gefühlte Ewigkeit anfühlt, versuche ich endlich, meine Beine in die andere Richtung zu zwingen. Doch bevor das geschehen kann, ertönt ein lauter Schuss.

Ich spüre, wie einzelne Tränen ihren Weg nach draußen finden, und ich kann mein Schluchzen nicht mehr zurückhalten. Ich lege meine Hand auf meinen bebenden Mund, um nicht noch lauter zu werden. Doch ich kann meine Augen nicht von dem gerade erschossenen Mann abwenden. Langsam steigt das Essen von heute wieder in mir hoch, und ich kämpfe angestrengt gegen den Würgereflex an. Alles steigt hoch, und ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ohne weiter darüber nachzudenken zu müssen, schließen sich meine Augen, und ich finde mich unvermittelt auf dem Boden wieder.

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