8| Niemand

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Wie glücklich hässliche Menschen doch sind. Sie werden für das geliebt, was in ihnen steckt...

[Aus einem Brief von Asta May, Februar 1946]

Asta May

Steva, Eileen
Platz 23
November, 1945

Asta hatte schon immer geweint. Als Neugeborenes, als Kind und auch jetzt.
Nicht weil sie einen Grund hatte, sondern weil sie es mochte. Manchmal war es die einzige Art, all die Gefühle aus ihr heraus zu lassen und jedes mal drehte sie die Musik laut auf, damit niemand ihr Weinen hören konnte.

Ihre Tante hatte einmal gesagt, dass hübsche Mädchen nicht weinten, da sie nichts zu bedauern hatten. ¹
Und Asta war hübsch, sehr hübsch sogar. Manchmal war sie sogar so hübsch, dass sie sich davor ekelte.
Es waren Momente, in denen sie sich wunderschön fühlte, aber sobald sie dann hinaus in die Welt trat und die Blicke der Anderen bemerkte, fühlte sie sich ekehaft.
Wie etwas schmutziges, dreckiges, dass man verdecken sollte. Sie wollte sich hübsch fühlen, konnte es aber nicht. Da der Rest der Welt sie nicht hübsch fand.²
Die meisten nutzten sie als Vorlage für ihre sündhaften Gedanken, für Szenarien in ihren Kopf über die Asta nicht nachdenken wollte.
Sie wollte dass Menschen ihre Schönheit bemerkten, ihre persönliche und nicht die ihres Körpers.
Asta war ein Mädchen, gefangen im Körper einer Frau, der sie dazu verdammt hatte eine Rolle zu spielen, die sie sich nie ausgesucht hatte.
Die Rolle der Asta May.

Aber sie würde viel lieber jemand anderes sein.
Sie wäre gerne Cailan Kasselowski, der den ganzen Tag von Schatten zu Schatten huschte, ohne, dass ihn jemand beobachtete.
Oder Evelyn Piccadilly, die von anderen gefürchtet wurde, wegen ihrem Verstand.
Und vielleicht wäre sie sogar gerne Sierra Wilde.
Sierra Wilde, die auf eine Göttliche Weise hübsch war. So wunderschön, dass man es nicht wagte einen sündhaften Gedanken gegen sie zu hegen.
Sierra Wilde war wie die Statue in Gottes Haus vor der alle knieten, die von der Ersten Frau.³

Seufzend wandte Asta ihren Blick vom Spiegel ab und musterte die aufgekratzte Haut an ihren Fingern.
Am liebsten würde sie sich die gesamte Haut vom Leib reißen, um jemand anderes zu sein.
Schnell wischte sie sich die warmen Tränen von der Wange und atmete dann tief durch, bevor sie sich erhob um die Musik abzuschalten.
Vorsichtig trat sie an den Plattenspieler, auf dem die schwarze Scheibe sich immer noch drehte und Töne abspielte.
Und fast interessierte sie sich, wie das wohl funktionierte. Aber nur fast.
Sie umfasste die Nadel und nahm sie dann von der Platte, nur um von einer stechenden Stille erschlagen zu werden.
Das Leben war so viel besser mit Musik.

„Asta?“, klopfte es an ihrer Türe.
Die Blonde sah von der Platte hin zu ihrem Spiegelbild und dann zur Tür. Es war spät am Abend und die meisten schliefen bereits. Jedenfalls die, denen sie nicht begegnen wollte.
Und so überraschte es sie nicht, als Evelyn Piccadilly grinsend vor ihr stand, als sie die Wagentüre öffnete, in den Händen wie immer ein Feuerzeug.
„Eve“, stellte sie nur fest und trat dann einige Schritte zur Seite, um das Mädchen hinein zu lassen.
Evelyn lief die Stufen hoch und musterte dann erst Asta von oben bis nach unten, bevor sie sich auf die gepolsterte Bank setzte.
Sie wirkte wie ein harmonischer Kontrast zu dem Inneren ihres Wagens, passte nicht wirklich zu den geblümten Tapeten und den rosanen Polster, aber gehörte eben dazu.
Evelyn war wie Ketchup auf Pommes oder Milch in Kaffee. Eine Kleinigkeit, die eine schöne Ergänzung war. Besonders spät am Abend.
Asta fürchtete sich vor dem Alleine sein und Evelyn vor der Dunkelheit, und so passte es nur, dass sie sich jeden Abend zusammen trafen.

„Denkst du an Rasputin?“, fragte die Rothaarige und sah zu wie Asta sich langsam auf den Stuhl ihr gegenüber hinsetzte.
Die Ältere zuckte mit den Schultern und kratzte sich weiter am Handgelenk, „Ich weiß nicht...Ich denke eher an Vincent.“
Sie hatte geglaubt, dass Rasputin aus ihrem Leben verschwinden würde, wenn er erst einmal tot war, aber sein Geist schien sie bis nach Steva zu verfolgen mit dem Ziel allen den Verstand zu rauben.
Denn das war das, was Putin immer getan hatte: Er beraubte die Menschen. Um ihren Verstand, ihre Unschuld und ihren Besitz.

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