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Sierra Wilde, tot aufgefunden, 24 Dezember 1965, Darcia im Marmor Haus.
Jonas Wilde, ermordet aufgefunden, 3 Juli 1974, Darcia in den Heinz Fabriken.
Aries Wilde, ermordet aufgefunden, 4 Juli 1974, Darcia in den Heinz Fabriken.

[Auszug einer Liste von Kriegsverbrechen, Juli 1975]

Aries Sodom Wilde

Darcia, Eileen
Heinz Fabrik
November, 1945

Aries Wilde war so einfach wie sein Name. Einfach nur Aries, so wie man schrieb.
Er hatte keine besonderes Vorlieben, Geheimnisse oder irgendwelche Träume. Er atmete und das war schön. Noch schöner aber fand er Jonas Piccadillys Grinsen, der gar nicht einfach war.
Und vielleicht mochte er ihn deswegen.

Jonas, der nicht so gesprochen wurde wie man ihn schrieb, war ein sehr pingeliger Mensch.
Er aß nichts, was bereits angeatmet wurde, wischte mit einem Tuch über alles was er anfassen wollte und führte manchmal Selbstgespräche mit einem Ronald.
Und er wusste nicht wer Ronald war, aber er tauchte nur dann auf, wenn es Jonas extrem schlecht ging. Was Aries sehr interessant fand.

So, wie er eigentlich alles interessant fand. Dass die Sonne jeden Morgen aufging, das Wasser flüssig war und die Bäume im Herbst ihre Blätter verloren.
Sein Vater hatte ihm mal erzählt, dass Menschen, die nicht an Gott glaubten, beobachten sollten, wie Bäume im Herbst ihre Blätter verloren und im Frühling wieder blühten.¹
Dass dies der beweis für Gottes Existenz sei. Und Aries glaubte an Gott.

Umso schwerer war es also gewesen aus seinem vertrauten Zuhause, in dem der Glaube immer so präsent war, abzuhauen, hinaus in die große weite Welt.
Aries musste erkennen, das es abseits des Vatikans² in dem er gewohnt hatte, mehr gab, als nur Religion und Gott.
Dass die Welt doch viel komplizierter war, als er es gerne hätte, allen voran im Thema der Liebe.
Er hatte fest daran geglaubt zu wissen was Liebe sei. Immerhin liebte Aries Gott, seine Schwester und den Duft von weißen Rosen.
Aber als er Jonas Piccadilly kennenlernte, passierte etwas in ihm, dass er nicht zu beschreiben vermochte. Er mochte ihn, keine Frage, aber nicht so wie er seine Schwester liebte oder wie er sich Gott hin gab.
Jonas Piccadilly war anders als all das, was Aries bis jetzt kannte.
Und zum aller ersten mal wollte er herausfinden, was diese Gefühle in ihm waren und woher sie kamen.

„Ich könnte mich hierran gewöhnen“, sagte Sierra und zeigte um sie herum.
Aries folgte ihrem Finger und besah sich der riesigen Halle, in der sie seit einigen Tagen einen Unterschlupf gefunden hatten. Jonas hatte sich anfangs geweigert überhaupt reinzukommen und bis sie den vorderen Bereich gründlich gefegt hatten. Und selbst danach hatte er immer noch die Sorge von der Decke könnten Spinnen fallen.
Aber Aries konzentrierte sich weniger auf den Dreck sondern mehr auf das, was dahinter war. Er hatte schnell entdeckt, dass lange, sehr lange vor ihnen, andere hier ihr zuhause hatten, allem anschein nach Künstler.
Die Wände waren voll mit wütenden Worten und traurigen Gesichtern, die auf eine merkwürdige Art real wirkten. Er hatte überlegt ob er vielleicht auch Künstler werden sollte, um glückliche Menschen zu malen.

Aber das malen war wahrscheinlich sehr anstrengend, also betrachtete er lieber das, was andere schon geschaffen hatten.
„Aries und ich gehen heute in die Gassen um mehr Putzmittel zu kaufen“, sprach Jonas und unterbrach seinen Gedankenfluss.
Aries blickte zu den rothaarigen hin, der mit angewinkelten Beinen auf einer Decke saß, hinter ihm ein kleines Zelt, das sie aus den Zirkus gestohlen hatten.
Gegenüber von ihm stand Sierra, deren Haare nicht mehr so leuchteten wie am ersten Tag, fast so als wären sie so verstaubt wie all die Bilder um sie herum.

„Noch mehr?“, fragte sie zweifelnd und sah von Jonas zu ihrem Bruder, welcher nur mit den Achseln zuckte.
Er mochte, auf eine merkwürdige weise, den brennenden Geruch von Scheuermilch, der manchmal so erfrischend wie die Luft im Frühling wirkte.
Wenn alles neu und frisch erblühte und aus den Tiefen der Erde hervor kroch.
„Sieh dich um Sierra, hier gibt es noch so viel zum putzen“, sagte Jonas und deutete mit erhobenen Armen um sie herum.
Seine Stimme hallte kalt an den Wänden wider, bis hoch nach oben, wo sie niemand hören konnte.
Aries seufzte, ging dann auf Jonas zu und wollte fast schon die Hand ausstrecken um ihm aufzuhelfen, entschied sich aber in letzter Zeit um.
„Komm schon Jonas“, sagte er stattdessen und vergrub die Hände in den tiefen seiner Jackentasche.
Es wurde immer kälter und Aries machte sich Gedanken wie es im Winter hier wohl aussehen würde.

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