10| König

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Irgendwann wurde es noch schlimmer...Diese Wut, dieser Hass, diese Reue...Er wurde zu der Art von Mann, die unsere Mutter immer mit nach hause gebracht hatte."

[Leyla Black über ihren Bruder Theodore, März 1975]

November Theodore Black

Darcia, Eileen
Wohnblock E, Phantomgasse
November, 1945

„Schach Matt", beendete Theodore das Spiel und schmiss die große Schwarze Figur um. Der König prallte auf dem hölzernen Brett auf und rollte dann etwas zur Seite, wo noch einer von Leylas Bauern stand.

Er hatte gewonnen.

„Ich hab dich gewinnen lassen Teddy", sagte seine Schwestee und lehnte sich auf dem Sofa zurück.
Theo lachte bloß und schüttelte den Kopf, „Ich habe ehrlich gewonnen."

Die Sonne fiel leicht ins Wohnzimmer, wo gemeinsam saßen und sich zu einer Runde Schach entschieden hatte.
„Ich habe dich gewinnen lassen", fügte Leyla wieder hinzu, „Aus Mitleid."
„Aus Mitleid?", wiederholte Theo und grinste dabei.
Seine Schwester nickte, „Aus Mitleid."
Auf ihrem Gesicht war der leichte Hauch von Belustigung auszumachen und er war zufrieden.
Der heutige Tag, war ein guter Tag.

Das war ihm schon bewusst gewesen, als Odells Sachen nicht mehr dort standen, wo sie sonst waren. Die braunen Stiefel waren verschwunden, gemeinsam mit dem Zigarettenrauch, der jeden Morgen mit der Sonne im Wohnzimmer aufging.
Und ohne zu wissen warum, freute Theodore sich für ihn. Denn jeder Mensch verdiente sowas wie Seelenfrieden, selbst wenn er die Person nicht mochte.

Mit einem leisen Quietschen ging die Zimmertüre auf und seine Mutter trat in den Raum, eingehüllt in einem schwarzen Mantel, der im Kontrast zu ihrer hellen Haut stand. Sie brachte eine eisige Stille mit sich, die wie eine Schlange unter den Möbeln auf zu hinzu schlängelte.
Theodore mochte die Farbe schwarz nicht. Sie war dunkel, trostlos und trüb, wie der graue Himmel an einem Herbsttag.

Viel lieber mochte er Blautöne, die so unendlich und weich wirkten, wie warme Meereswellen oder der Himmel an einem klaren Sommertag. Er mochte Violett, weil es ihn beruhigte und Lila, weil es ihn an den Lavendel erinnerte, den seine Mutter immer zwischen seine Wäsche tat.

Aber als Theodore die blassen Lila Flecken am Hals seiner Mutter sah, dachte er nicht an Lavendel, sondern an die Hände die dies getan hatten.
Er fragte sich warum sie immer wieder Männer ins Haus holte, vor denen sie ihre Kinder warnte, Männer die ihr weh taten.

Sein Blick wanderte zu Leyla, die nur stumm das Brett vor sich musterte und verlegen ihre Hand umklammerte.
„Ich gehe zur Arbeit, um 20 bin ich wieder da", sagte seine Mutter, knotete dann ihren Mantel zu und lief rüber zu ihren Kindern, um ihnen zum Abschied auf den Scheitel zu küssen, so wie sie es immer tat.
Als sie näher heran trat sah Theodore ganz genau das verblasste Lila, das nach außen herum immer dunkler und intensive wurde, bis es viele kleine, blaue Punkte waren.
Es erinnerte ihn an die alten Blumen, die Lydia in Büchern gepresst hatte.
So vollkommen leblos und verblasst.

Theo zuckte zusammen, als die kalte Hand seine Wange umfasste, zwang sich dann aber zu einem Lächeln, welches aber nicht seine Augen erreichte.
„Wir decken dann den Tisch", murmelte er und drückte die Hand seiner Mutter, bevor sie langsam von ihm wegtrat und mit lauten Schritten aus der Wohnung lief.
Stumm beobachteten die Geschwister wie die Frau die Türe öffnete und den Knauf so umklammerte, als wäre es ihr einziger Anker mitten im schwarzen Meer, das einzige, das sie am leben erhielt.
Der Türknauf wurde am Tag so oft genutzt, dass er schon glänzte und fiel zwischen all den alten Möbeln auf.

Aber in der Sekunde, in der seine Mutter ihn umfasste und sie bedauernd ansah, wirkte er genau so verblasst wie alles andere.
Denn irgendwie waren sie alle so vollkommen ohne Leben und Sinn. Die Tür fiel ins Schloß, der Bilderrahmen wackelte, fiel jedoch nicht zu Boden.

Abwartend sahen die Geschwister zu der Wand hin, zuckten dann aber mit den Achseln, als das gewohnte Geräusch des Aufpralls ausblieb.

„Hast du das gesehen?", brach er dann die Stille und sah zu Leyla hin.
Die ältere hob ihren Blick und nickte matt, „Ja."
Er musterte sie weiter, versuchte etwas in ihren Gesichtszügen zu erkennen, was mehr als ein „Ja" war.

Aber Leyla sprach so einfach, wie sie aussah. Ihre Gesichtszüge waren, er wusste es nicht anders zu beschreiben: gewöhnlich.
Die Lippen waren zu dünn, um voll zu sein, aber immer noch zu voll, um dünn zu sein. Sie hatte keine lockigen Haare wie Lydia, aber auch nicht so glatte wie Charity, nicht einmal das braun ihrer Augen war zu beschreiben.
Zu dunkel um Nussbraun zu sein, zu hell für Schokoladenbraun, es war einfach nur braun.

„Findest du das nicht schlimm?", fragte er und kratzte sich am Handrücken.
Eine Gänsehaut breitete sich aus, wenn er an seine Mutter dachte und daran, wie sie wohl diese Male am Hals bekommen hatte.
Es fühlte sich falsch an sie so zu sehen und nichts zu tun.
„Das war der Neue, Vincent", antwortete sie achselzuckend und beobachtete wie Theo nach einer Schachfigur griff.
„Warum ein neuer?", fragte er und sah auf die hölzerne Figur in seinen Händen.

Die Königin.

Sie war die mächtigste Figur auf dem Spielfeld, aber trotzdem so bedeutungslos wie die Bauern und Springer.
Leyla griff ebenfalls nach einer Figur und musterte sie, bevor sie antwortete, „Weil jede Frau einen Mann braucht...Es gibt immer irgendeinen Mann."
Theo blickte auf den König in ihren Händen, der fast genauso aussah wie die Königin, abgesehen von der Krone oben dran.

„Ich bin doch hier", sprach er dann und hob den Blick, „Ich bin ein Mann!"
Seine Schwester lächelte nur matt und schüttelte den Kopf, „Nein Teddy, du bist ein Junge, kein Mann."

„Weißt du was", setzte er an, und legte die Königin behutsam auf das Brett, „Ich werde mir eine Arbeit suchen und Geld verdienen!"
Leyla hob nur fordernd die Augenbrauen, „Und dann?"
„Dann bin ich ein Mann."
Sein Gegenüber lachte und blickte auf die Figur in ihren Händen hinab, „Geld macht dich nicht zu einem Mann."

Fragend musterte er sie, „Was dann? Wodurch wird man dann zum Mann?"
Er kratzte mit dem Fingern an der Sessellehne und wartete auf die Antwort seiner Schwester, welche die Figur in ihren Händen hin und her drehte, bis sie es schließlich ebenfalls platzierte, genau neben seine Königin.
„Eine Frau", sagte sie schließlich und deutete auf die Figuren, „Eine Frau an deiner Seite macht dich zu einem Mann...Was ist schon ein König oder seine Königin?"

Theodore nickte abgehakt und blickte auf die Figuren hinab, die einsam auf dem Feld standen, stumm und ohne leben.
Die Königin, mit den einfachen Rundungen der Figur und dem schlichten Holz und dem König, der größer und massiver als sie wirkte.
Er dachte daran, wie schnell sie fallen konnten und daran, dass das Spiel ohne einen König nicht funktionierte.
Und irgendwie, war das Leben auch wie ein Schachspiel.
Vielleicht brachte seine Mutter deswegen immer wieder fremde Männer mit nachhause: Weil sie einen König brauchte.

Und er versprach sich: Wenn er jemals ein Mann wäre, würde er nicht wie die Könige aus den alten Geschichten sein, nicht wie der König im Schach und ganz bestimmt nicht wie die, die seine Mutter schlugen.

Er würde Theodore Black sein.
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Fact: Die Schachspiele zwischen Leyla und Theo sind nicht wirklich relevant und waren eigentlich nie geplant.
Mein Bruder und ich haben früher jeden Abend Schach gespielt (wir waren beide unglaublich schlecht) und so kam es irgendwie, dass auch dieses Geschwisterpaar eine Leidenschaft für Schach hat.

-Diesmal gibt es überraschenderweise keine Fußnoten-

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