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„Bist du eingeschlafen?"
Gedankenversunken blickte das Mädchen auf die Uhr auf Asherahs offener Handfläche und hatte aufgehört, die Knöpfe des neuen Kleides zuzuknöpfen. Geduldig begutachtete er einen Gobelin zu seiner Linken und ließ ihr die Zeit die sie benötigte.
„N-Nein. Ich bin beinahe fertig. Du kannst dich umdrehen, entschuldige. Aber auf einer Festlichkeit wie dieser wird sicherlich hauptsächlich der Adel anwesend sein. Ich zweifle an, dass sie Freude an jemandem von der Straße finden werden. Ich kann kaum lesen und das Schreiben will einfach nicht gelingen. Ich kann mich poetisch unterhalten aber habe kaum Bildung erfahren."
Vieles hatte Ella sich seit ihrer Zeit im Schloss angelesen, genauer gesagt vorlesen lassen, aber das bezog sich alles auf Philosophie und die marginal niedergeschriebene Historie der Königsbrüder.
Als ihr Gegenüber sich umdrehte, hatte sein Lächeln sich in keiner Weise verändert. Mit dem Daumen strich er zart über die Uhr und betrachtete sie.
„Du siehst wunderschön aus. Und machst dir zu viele Gedanken und Sorgen. Die Leute werden dich mögen, sie werden dich akzeptieren. Hier, deine Uhr. Irgendetwas fehlt dennoch... Ich weiß natürlich, dass meine Entscheidung sehr unkonventionell ist, doch ebendies macht es indes so faszinierend, hm?"
Selbst auf dem Podest stehend reichte Ella Asherah nur knapp bis zur Schulter. Aus diesem Grund musste der Mann auf die Knie gehen, um ihr das große, aus schwarzem Brokat angefertigte und mit weißen Stickereien verzierte Band zu einer Schleife um die Hüfte zu binden. Sein Lächeln wirkte wie gewohnt ansteckend.
„Die negativen Gedanken zeichnen sich auf deinen Lippen ab und diese traurige Mimik steht dir nicht so gut, wie dein sonst so unbeschwertes Strahlen."
Ella ließ sich das nicht zweimal sagen und lächelte für Asherah, lächelte für sich, offen und ehrlich. Er hatte recht, dieses Königreich setzte sich aus Wohlwollen und Respekt voreinander zusammen. Sie hatte noch Angst, und die würde sie sicherlich bis morgen nicht abschütteln können, doch jetzt ging diese Angst mit positiver Aufregung einher. Morgen Abend wird sie also ein offizieller Teil der Familie sein. Der königlichen Familie. In der Vergangenheit hätte sie sich ein solches Schicksal im Leben nicht erträumen lassen. Sie hätte gelacht, sogar wenn eine Seherin ihr davon erzählt hätte, wo sie später landen wird, vielleicht auch geweint. Ungeachtet dessen, Ellas Glück ist unbeschreiblich.
„So ist es doch schon besser, nicht?"
Ohne Vorwarnung sprang sie in die Arme des Königs und drückte ihn fest. Sie war ihm so unglaublich dankbar, dass sie es nicht in Worte zu fassen wusste und so zeigte sie es ihm. Das war das erste Mal, dass sie Asherah von sich aus umarmte. Das erste Mal, dass sie sie bei jemandem derart wohlfühlen konnte.
„Vielen Dank."
„Aber nicht doch, nicht dafür."
Asherahs Berührungen und Bewegungen sind immer so zärtlich, egal was er tat. Ella bewunderte ihn dafür. Eben wenn sie sich Mühe gab, war sie nicht seltsam unbeholfen und ungeschickt. Aber Asherah erschien ihr perfekt. Bald schon löste er die Umarmung von sich aus auf und entschuldigte sich.
Die hoheitlichen Pflichten wichen den Bedürfnissen eines Kindes nach Aufmerksamkeit nicht und der König opferte bereits weitaus mehr Zeit für sie, als er sich leisten können sollte. Doch als er verschwunden war, fuhr ein kalter Schlag durch ihren Körper. Ihre Sicht schwärzte sich und die Welt drohte zu kippen. Als nächstes wurde es still. So still, dass Ella nicht einmal in Panik ausbrechen konnte, weil die Verwirrung und die Neugierde alles überflügelten.
„...inakzeptabel."
Eine ferne Stimme drang zu ihr durch, meisterte den Hindernislauf, vorbei an erdrückender Ruhe, pechschwarzer Blindheit und völliger Orientierungslosigkeit. Zuerst waren es nur Wortschnipsel. Zusammenhangslose, abgehackte Satzstücke. Doch auch als die Stimme an Intensität gewann, blieb sie unterbrochen.
„Diese Entscheidung..."
Entscheidung?
„...nicht ganz...aber...verantwortungslos."
Welche Verantwortung?
„...ein Kuckuckskind! Kuckuckskind!"
Kuckuckskind? Was bedeutet das? Was ist ein Kuckuck? Ella versuchte mehr zu verstehen, doch sie kam nicht tiefer in diesen Traum hinein. Es fühlte sich an, als wäre sie in einer unsichtbaren Blase eingeschlossen und könnte sich außerhalb dieses unbekannten Radius nicht bewegen. Doch eben diese noch fehlenden Puzzleteile befanden sich dort. Außer Reichweite. Sie musste den Versuch aufgeben, das realisierte sie schnell, doch die Angst blieb weiterhin fern und so setzte auch die Vernunft nicht ein, um sie von einer fatalen Dummheit abzuhalten. Gegen die illusionäre Grenze ankämpfend, bündelte sie alle verfügbare Energie und stemmte diese gegen die Blase. Mehr Gedankenfetzen drangen zu ihr durch, doch je mehr sie vernahm umso irrsinniger wurde es. Und je irrsinniger, umso schmerzhafter. Als es plötzlich nicht mehr vorwärts ging, mutierte die Blase zu einer stählernen Wand, die sich keinen Millimeter weiterbewegen ließ. Ein anderer Hinweis ihres Unterbewusstseins, unbedingt aufzuhören, umzukehren, zu vergessen. Und diesmal gehorchte sie. Doch die erste Grenze wurde unwiderruflich überschritten und die Folgen ließen nicht länger auf sich warten. Die Dunkelheit wurde schlagartig von einem grellen Blitz zerrissen, donnernder Schmerz schoss durch den Kopf des Mädchens und sie schrie sich die Seele aus dem Leib, um dagegen anzukämpfen. Verkrampft krallte sie die Finger in die Haare und zog daran, als könnte sie damit ihr Leid vermindern. Tatsächlich zeigte es Wirkung, wenn auch nur gedrosselt und etappenweise.
Als sie das nächste Mal das Bewusstsein wiederfand, standen drei Bedienstete um sie herum und gaben sich größte Mühe dabei, beruhigend auf sie einzureden und ihre Fingernägel aus ihrer Kopfhaut zu befreien. Schwerer, flacher Atem machte es dem Mädchen umso härter, nicht wiederholt in Ohnmacht zu fallen aber es gelang irgendwie. Doch für ihre Frisur und Kopfhaut gab es wenig Hoffnung, denn sie fühlte rasch das warme Blut auf den Fingerkuppen.
„...Notfall...Asherah informieren!"
Erneut schrie sie auf, diesmal aber nicht von Schmerz gesteuert. Die Diener dürfen auf keinen Fall Asherah in Kenntnis setzen. Sie musste ihnen das irgendwie übermitteln, doch mit normalen Worten klappte es nicht. Sie bekam die Konzentration nicht zusammengehäuft.
„Nicht! B...bitte nicht. Nicht informieren..."
Und erneut wurde es Schwarz. Der Traum wiederholte sich. Im ersten Moment sträubte das Mädchen sich, versuchte aus dieser seltsamen Illusion zu flüchten, nur gab es nicht nur kein Vorwärts aus der Blase heraus, sondern auch kein zurück. Keinen Ausweg. Flucht kam nicht in Frage. Die einzige sicher erscheinende Strategie war es, still zu stehen und zur tatenlosen Beobachterin zu werden. Ein unbekannter, tief verwurzelter Instinkt trat auf einmal ins Licht und belohnte sie für genau diese weise Entscheidung mit einer Erkenntnis. Die Augen schließend begann sie zu lauschen. Was sie vernahm waren dieselben drei Begriffe wie zuvor, wenn auch deutlicher. Entscheidung, Verantwortungslos, Kuckuckskind. Das letzte Wort versetzte Ella einen seltsamen Stich in der Brust. Sie hatte es zuvor noch nie gehört, kann sich auch nicht an ähnliche Begriffe oder Synonyme erinnern, und nichtsdestoweniger stach es für sie hervor. Gefühle von Nervosität, Unsicherheit und Angst überschlugen sich und spülten kühlende Seren durch ihre Adern, wuschen sie von jeglichen sonstigen Empfindungen rein. Und hinterließen zum Schluss eine klaffende Leere.
Eine gefühlte Ewigkeit luden diese drei Schlagwörter ihr gesamtes Gewicht auf der Brust von Ella ab und erschwerten ihr das Atmen. Erst als sie langsam zu sich zu kommen schien, lichtete sich der Nebel in ihrem Kopf. Doch die Augen hielt sie fürs erste weiterhin geschlossen. Ohne es vorher zu versuchen wusste sie bereits, dass es, wo auch immer sie sich befand, heller war, als ihre Neven vertragen würden.
„Ugh...Mein Kopf. Auuu."
Mehr als Jammern brachte sie nicht über sich, das war alles was ihr geblieben ist. Sie wollte nur schlafen. Denn obwohl sie genau das für eine unbestimmte Zeit getan hatte, fühlte sie sich elender denje. Kraftlos und ausgelaugt. Der Schlaf war unruhig, die Träume so laut und anstrengend.
„Ella! Um der Könige Willen, geht es dir gut?"
Ella kam die Stimme ungemein bekannt vor, sie war piepsig vor Aufregung und zitterte.
„Mhh...Nicht schreien, bitte.", flüsterte die Goldhaarige und seufzte zur Untermauerung der Bitte. Mit einer Hand fuhr sie langsam ihre Kopfhaut entlang und suchte nach den Einkerbungen, welche ihre Fingernägel dort hinterlassen haben mussten. Suchte getrocknetes Blut. Und wurde fündig.

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt