„Hört der Sand hier unten eigentlich irgendwann mal auf aus allen Löchern zu rieseln?"
Seit einer geschlagenen Stunde navigierte Kendric die kleine Gruppe nun durch den Untergrund und nach all den Abzweigungen und Richtungsänderungen ist Ella die Orientierung vor langer Zeit abhandengekommen. Sie könnten sich momentan ebenso gut unter einem der königlichen Schlösser befinden, wie sollte sie es auch merken? Aber der Sand stellte sich wirklich als äußerst nervtötend heraus. Besonders für Kira, deren Haare durch das viele Schütteln und die hohe Luftfeuchtigkeit nicht enden wollend an Volumen gewannen. Als hätte sie an einen Elektrozaun gepinkelt.
„Über uns wird es jahreszeitenbedingt wärmer und trockener, ich befürchte mit dem Sand müsst ihr euch arrangieren.", sagte Kendric und hielt zwei Finger nach oben. Damit deutete er Kaegan an, den zweiten der drei vor ihnen liegenden Gängen zu nehmen. Dass der Rappe diese Richtung bereits von sich aus ansteuerte, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, bestätigte die Hypothese Ellas, dass Kaegan den Weg selbst kannte und genau wusste, wohin er ging. Ob sie es hinterfragen wird, hat sie noch nicht entschieden. Vorher meldete sich erneut Kira zu Wort, diesmal aber an ihre Freundin gewandt.
„Mir ist noch etwas eingefallen. Als wir am See auf die Pferde gewartet haben, da hast du mir ja diese ganze Problematik mit dem Begriff Kuckuckskind erklärt. Bei den Attentaten hat das aber kaum Relevanz gehabt, ist dir das aufgefallen?"
„Kuckuckskind?", Kendric drehte den Kopf, dabei schneite mindestens eine Handvoll Sand aus seinen braunen Haaren. „Dieses Wort hat sich tatsächlich noch einmal etabliert? Das ist wahrlich hinterhältig, wenn ihr mich fragt. Wer hat wohl den Stein diesmal ins Rollen gebracht?"
Ella wurden langsam der Hintern und die Schenkel wund also stieg sie von Kaegans Rücken und ging neben dem Mann einher. Auch ihr ist aufgefallen, dass der Begriff nur kurzzeitig wahrlich Relevanz erhielt und danach völlig unter den Tisch gekehrt wurde. Nicht, dass es dem Mädchen etwas ausmachte aber irgendetwas stimmte damit vorn und hinten nicht. Und Kendric wusste offenbar mehr, als die Könige bereit waren zu erzählen.
„Wer war es denn das letzte Mal?", startete sie das Verhör dezent und musste auch keine zwei Wimpernschläge auf eine Antwort warten. Und dies, obwohl Asherah sich diese Geschichte bis zu dem Moment aufhob, an welchem Ella ihn von sich aus damit konfrontierte. Doch Kendric wusste nicht, was sie weiß, oder wissen soll.
„Du meinst, wer dieses Wort erfunden hat? Na, der König. König Asherah. Es war das erste und einzige Mal, dass ich ihn derart abwertend-, dass ich ihn überhaupt abwertend von einer anderen Person habe sprechen hören. Das ist viele Jahre her und er hat es auch nicht direkt mir erzählt, sondern mit seinem Bruder darüber gesprochen. Ich war nur zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Verstanden habe ich dieses Gespräch damals nicht. Wirklich verstanden habe ich es bei seiner Rede..."
Ella wollte nicht weiter nachhaken, sie hatte das Gefühl bei der kleinsten Bohrung auf Öl gestoßen zu sein, dabei aber auch einen Nerv getroffen zu haben. Trotzdem war es ihr noch nicht möglich, das Puzzle zusammenzusetzen, also blieb keine Wahl. Als sie fragte, worum es in dem Gespräch ging, räusperte Kendric sich und wechselte die Schulter, um welche die dicke Tasche mit den Klamotten hing.
„Sie haben ihren Tod geplant. Es ging immer wieder um eine Art von schützender, weißer Wand und einem letzten Feinschliff vor der Perfektion. Gelegentlich sprachen sie von dem Anfang vom Ende. Ich dachte immer, es handelte sich um ein architektonisches Projekt. Und irgendwann sprachen sie von dem Kuckuckskind hinter dieser Wand und dass es um jeden Preis dahinter, und wir davor, bleiben müssen. Doch dieses Detail wurde in der Rede übersprungen. Diesen Begriff musste er schon vor seiner Zeit als König für dieses Etwas da draußen gehabt haben, ich bin mir sicher. In Asherahs Stimme lag damals so viel Hass, ich erinnere mich an diesen Blick von ihm, er hätte damit Glas zerschmettern und Bäume entwurzeln können. Es war erschreckend."
„Und hatten sie-...", Ella wurde flau im Magen, aus Angst vor der Antwort. „Hatten sie bei diesen Besprechungen jemals Zweifel an dem Vorhaben?"
„Ich glaube nicht. Jedoch habe ich dahingehend auch nicht tiefer gegraben. Nur die Sache mit dem Kuckuckskind wollte mein Unterbewusstsein nie so richtig loslassen und irgendwann habe ich König Asherah in einem ruhigen Moment danach gefragt. Zuerst hat er mir irgendeine Geschichte über Vögel erzählt, sie sich offenbar nach einem ungewöhnlichen Prinzip verhielten. Danach wurde er aber auf einmal ernster und seine Stimme tiefer. Da wusste ich, etwas Wichtiges kommt gleich zur Sprache. So war es. Was auch immer die Erfindung des Kuckuckskindes geprägt hat, es muss wahrhaft schlimm gewesen sein. Und es belastete ihn sehr. Ich bezweifle, dass sich das bis heute geändert hat."
Der Weg führte allmählich noch steiler bergab. Mit jedem Höhenmeter wurde die Luft nach Gefühl dicker, die Feuchtigkeit darin höher und die Temperatur unerträglicher. Bald schon gab auch Kendric nach und zog seine Jacke aus. Er band sie sich um die Hüften und krempelte die Ärmel des dunklen Hemdes bis über die Ellenbogen. Nun kamen deutliche Muskeln zum Vorschein, die bisher darunter verborgen geblieben sind. Ella nahm sich daran ein Beispiel und schob die kurzen Ärmel des Leinenhemdes über die Schultern. Allerdings waren diese viel zu weit und wollten trotz aller Mittel nicht halten.
„Wäre es möglich, einen kurzen Halt einzulegen und die Klamotten zu wechseln?"
„Oh ja, bitte. Ich klebe durch die Sachen hindurch schon am Sattel. Jetzt würde ich für ein kühles Bad töten.", stimmte Kira Ella zu, fügte danach aber leise an, dass sie solche Wort als Seherin wohl nie wieder aussprechen können wird, ohne misstrauische Blicke zu ernten. Und Ella musste sich eingestehen, dass das wohl der Wahrheit entsprach. Seltsamer Weise antwortete Kaegan nicht, als sie ihn nach seinem Befinden wegen der Hitze fragte. Er trottete nur still hinter ihr her. Für gewöhnlich verweigerte er die Aussage nicht. Dennoch hinterfragte es keiner, denn die Schweigsamkeit wurde lediglich als Zeichen der Anstrengung interpretiert.
„Wir kommen gleich an dem Ort an, den ich vorerst als Übergangslösung ansteuere. Dort könnt ihr euch umziehen. Ich kenne mich hier unten auch nicht gut aus aber diesen Weg kenne ich wie die Tasche meines Jacketts. Ihr müsst wissen, auch die Könige hatten einst einen geheimen Rückzugsort, an dem sie nach einem harten Arbeitsmonat einmal für ein oder zwei Tage ausspannen konnten. Und ich habe sie dorthin als Personenschutz für den Fall der Fälle begleitet. Solch ein Fall trat natürlich nie ein aber man kann nie wissen. Das haben wir immerhin vor kurzem erst unter Beweis gestellt bekommen. Himmel, es muss mindestens dreißig Jahre her sein, seitdem ich das letzte Mal hier gewesen bin. Seht ihr das Licht dort hinten?"
„Geht es da nach draußen?", fragte Kira ungläubig und stellte sich in den Steigbügeln auf. „Unmöglich, wir sind so lange immer nur nach unten gelaufen, wahrscheinlich stoßen wir jede Sekunde auf den Erdkern."
Bei der Bemerkung lachte Kendric sanft und schüttelte den Kopf. Dabei pustete er das Streichholz in seiner Hand aus. Der Duft von Rauch stieg Ella in die Nase, er hatte etwas wohltuendes an sich. Er verstrich auch nicht, sondern breitete sich in dem ganzen Tunnel aus. Die Lichtquelle am Ende ihres Weges stellte sich als dicke Fackel heraus, die in einer Halterung aus rostigem Metall an der Wand hing. Hinter ihr befand sich eine halb in sich zusammengefallene Holztür.
„War hier vor kurzem jemand?", flüsterte Ella mit plötzlicher Unsicherheit in der Stimme. Auch wenn es unmöglich war, stellte sie sich vor, wie gleich einer der Königsbrüder dort heraustrat. Neben der Angst empfand sie bei dieser Vorstellung auch einen Hauch von Hoffnung.
„Ach nein, keine Angst, Prinzessin. Diese Fackel brennt hier grob geschätzt schon seit auch die Tür in den Angeln hängt. Sie wurde mit einem ewig brennenden Sekret bestrichen und wird uns wahrscheinlich noch alle überdauern. Solch eine Vorstellung hat etwas Seltsames an sich, nicht?"
Kira stieg nun auch von Nina ab, ließ ihr Streichholz auf den Boden fallen und trat es aus. Ella ahmte die Bewegung unbeholfen nach. Durch den festen Blick auf dem Boden bemerkte sie erst viel zu spät, dass der von hinten kommende Kaegan keine Anstalten machte, sein Tempo zu drosseln. Stattdessen stieß er schwungvoll in die Blondhaarige hinein und warf sie damit zu Boden. Zum Glück erschrak das mächtige Tier davon nicht weniger als das Mädchen selbst und blieb stehen, sonst wäre sie womöglich unter die Hufe gekommen. Kendric war sofort zur Stelle und kam Ella zur Hilfe.
„Kaegan, sei doch vorsichtig!", wies der Mann mit Nachdruck an und zog Ella zurück auf die Beine. Der Hengst reagierte zuerst nicht, schüttelte dann ein paar Mal den Kopf und stampfte mit dem vorderen Huf auf.
„Pardon?", brummte er, als hätte er von dem Zusammenstoß überhaupt nichts mitbekommen. Generell sah der Rappe sehr benommen aus.
„Ist alles in Ordnung mit dir?", griff Ella ihre noch immer unbeantwortete Frage erneut auf und legte den Kopf schief. Nachdem Kaegan eine kurze Zeit die Fackel zu seiner Rechten begutachtete, und daraufhin auch die Tür, richtete seine Aufmerksamkeit sich auf die vor ihm Versammelten.

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Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...