Vor langer, langer Zeit, als die Wesen dieser Welt noch gemächlich als Sternenstaub ihre Bahnen um den Planeten zogen und ihn wie glitzernde Schneeflocken zu bepudern versuchten, trugen diese beiden Planeten noch große Ringe, die sie in ihrer Umlaufbahn umkreisten. Es existierte ein Punkt, wo die Ringe aufeinandertrafen, ohne dass jemals auch nur ein einziger Gesteinsbrocken mit einem anderen kollidierte. Diese Schnittstelle prägte später die Legende der größten existierenden Harmonie, die unsere Galaxie jemals zu erschaffen vermochte. Bisher. Es heißt, die beiden Planeten verkörperten zwei lang verstorbene Liebende, deren Leidenschaft füreinander selbst nach ihrem Tod mächtig genug verblieb, um in den endlosen Weiten des Alls verewigt zu werden.
Ella zählte neben der Geschichte die Sterne am Himmel und sortierte sie nach den Farben in denen sie schillerten. Währenddessen hörte sie dem Königsbruder aufmerksam zu. Diese wolkenlose Nach fühlte sich nach der schönsten von allen an.
Die Liebenden wohnten voneinander getrennt. Einer auf unserem Planeten, der andere auf dem hellen Riesen am Horizont, genannt Leighthyn. Sie hatten nie ein Wort gewechselt, kannten einander Namen nicht, wussten nicht einmal, dass der andere existierte. Doch sie teilten viele Gedanken und Emotionen und als sie eines Nachts gleichzeitig gen Himmel blickten, die Augen von Tränen benetzt, spürten sie, dass irgendwo dort draußen jemand zurück starrte. Dass irgendwo dort draußen jemand war, der sie verstand, dessen Herz mit dem eigenen in Einklang schlug. Und auf einmal fühlten sie sich nicht mehr allein.
Jede Nacht, wenn der violette Mond dort vorn am höchsten schwebte und die Planeten einander am nächsten waren, stiegen sie auf den größten Berg ihrer Welt, stellten sich auf die Zehenspitzen und empfanden einander Nähe, einander Gefühle. Sie Spürten die Wärme einer Umarmung und die Hitze eines Kusses, gefüllt von Liebe und Zärtlichkeit, überschüttet von Glück.
Diese neu gewonnene Kraft schenkte ihnen ein Wunder. Als sie eines Abends auf ihren Bergen saßen und auf die Nacht warteten, fielen zwei Sternschnuppen hernieder. Sie kamen an der Spitze der Berge zur Ruhe und stellten beide vor die Wahl. Sie würden ihren Seelen göttliche Schwingen schenken, mit der Kraft, zu dem Punkt zu fliegen an dem ihrer Planeten Ringe einander berührten, im Austausch für ihren irdischen Körper. Sie sollten ihr Leben aufgeben. Was denkst du, wofür sie sich entschieden?Ella lag mit dem Kopf auf König Asherahs Schoß und kämpfte gegen die sich auftürmende Müdigkeit an, um das Ende der Geschichte nicht zu verpassen. Als sie antwortete, dass die beiden Wesen sich die Flügel wünschten und einander zum ersten Mal begegnen konnten, lächelte Asherah und streichelte ihr zärtlich über den Rücken. Genauso, wie er es damals in Katurah getan hatte.
Sie lehnten ab, sagte er. Überrascht hob Ella den sich schwer anfühlenden Kopf und fragte ihn, wieso sie sich so entschlossen. Asherah antwortete:Weil sie einander bereits vollends liebten. Die Nächte die sie teilten waren die schönsten in ihren Leben und sie haben gelernt, durch das Glück ihr Leben viel facettenreicher wertzuschätzen. Sie brauchten einander nicht zu sehen, nicht zu spüren, denn sie fühlten. Es gelang ihnen, sich über einen Blick und eine Emotion zu verlieben und diese teilten sie bis zu ihrem endgültigen Ableben. Und darüber hinaus. Denn nach ihrem Tod stiegen beide Seelen aus eigener Kraft empor und trafen sich im Schnittpunkt der Ringgebilde. Es dauerte noch viele Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte, bis diese Ringe verschwanden und die Liebenden der nächsten Generation wichen, die eines Tages ihre eigene Geschichte in unserem Firmament verewigen wird. Vielleich wirst irgendwann du das Angebot dieser Sternschnuppe erhalten? Wer weiß.
Asherah sprach in dieser Nacht noch eine Weile weiter, wohlwissend, dass Ella bereits tief im Land der Träume versunken war. Und diesmal träumte sie nicht von unheimlichen, bösen Geschöpfen, sondern von einem großen, bis zwischen die Sterne ragenden Berg. Und am Horizont glitzerten Sternschnuppen. Irgendwo in diesem bunten Meer winkte jemand zu ihr hinüber, sie konnte es nur nicht sehen.
Und nun war Ella hellwach, lag auf Kaegans Rücken und betrachtete die spärlichen Überbleibsel von Leighthyns Ring, der noch immer so nah an sie heran ragte, dass sie seine Bestandteile, die weißen Erze und Gesteine, mit etwas Mühe vereinzelt zählen konnte. Es waren sogar viele weitere, kleinere Brocken aus Sternenstaub sichtbar, die in seiner Umlaufbahn wie körniger Schnee gemächlich vor sich hintrieben und die großen Gesteine überholten. Die Nacht besaß in vielen Philosophischen Schriften ihre eigenen Synonyme für ihre unbeschreibliche Schönheit. Doch bis jetzt konnte ihr einfach keines davon gerecht werden. Wahrscheinlich sollte es ebendiese Unbeschreiblichkeit sein, die das definierte, was sich vor ihren Augen Nacht für Nacht abspielte. Manche Dinge wollten wohl einfach nicht verewigt werden. Und um dies zu erreichen, genügte unsagbare Schönheit.
„Wie geht es dir, Mädchen?"
„Kennst du die Geschichte der Liebenden, die ehemals die Ringe unseres Planeten und Leighthyns prägten?"
„Gewiss."
„Denkst du, die Legende ist wahr?"
Kaegan schwieg und Ella nutzte die Zeit, um zu rekapitulieren. Durch die Augen des Geschöpfes in ihrem Traum konnte sie über die Brüstung des silbernen Geländers nicht erkennen, was ihr Traum-Selbst für ein Kleid trug. Ansonsten hätte sie anhand des bevorstehenden Geschenks von Nishah deuten können, ob dieser Traum tatsächlich eine Vorsehung des morgigen Tages war.
Ellas Herkunft war noch immer unbekannt, ihre DNA ein Mysterium, und soweit sie wusste, existierten zwei Arten von Wesen, die fähig sind, in die Zukunft zu blicken. Leider reichte ihr Wissensrepertoire dazu nicht über diese Zahl hinaus. Es gab viele verschiedene Wesen mit noch viel mehr verschiedenen Fähigkeiten und bisher hatte Ella weder die Zeit noch die Kapazitäten, um sich mit allen auseinanderzusetzen. Sie kannte die Rasse der Seher, erinnerte sich aber daran, dass Seher allein nicht die Macht besaßen, die Zukunft zu offenbaren. Sie konnten sie nur sehen. Es bedurfte irgendeines zweiten Puzzleteiles. Bei den Königsbrüdern funktionierte ein ähnliches System. Das kannte sie zwar aber es ließ sich nicht übertragen.
„Niemand, nicht einmal ein einziges historisches Buch in der angeblich allwissend Stadtbibliothek weiß, was vor der Geburt der Königsbrüder auf dieser Welt existierte. Und auch danach bis hin zur Gründung dieses Reiches ist der Großteil schleierhaft, weil weder König Asherah noch König Nishah davon sprechen. Wenn eins auftaucht, dann setzt es sich zusammen aus Behauptungen ohne Hand und Fuß. Es gibt viele ungeklärte Zeichnungen und Gravuren in den Wäldern, Bergen und den Tiefen der Gewässer. Genauso in den Palästen der Brüder selbst. Es wäre ein Verlust, in einer Welt voller Wunder wie der unseren nicht an Legenden zu glauben."
Ella lächelte in sich hinein und hob die Hand in die Luft, als könnte sie die Sterne berühren, sie zu bezaubernden Sternbildern verformen oder sogar eine goldene Sternschnuppe einfangen. Was würde sie sich wünschen?
„Unsere Welt ist so voller Hoffnung und Wunder. Warum gibt es trotzdem Leute wie diese verrückte Frau? Warum gibt es heimatlose Kinder und lästernde Schmäher? Warum Neid und Leid?"
„Gehe ich recht in der Annahme, dass dich der Vorfall stärker bedrückt als du zugeben möchtest?"
„Ist das so offensichtlich?"
Ihr Begleiter schnaubte und eine Wolke aus kühlem Nebel streifte ihr Ohr.
„Ella, setze dich auf und hör mir zu. Sehr gut, danke. Ich erinnere mich an deine Diskussion mit dem Professor heute Morgen, welcher übrigens folgenlos sein Bewusstsein wiedererlangt hat, und ich erinnere mich an dein Interesse bezüglich der Theorie von Sohgaget de Mur. Die Theorie ist in sich natürlich schlüssig aber es ist ihr Grundbaustein, welcher besonderes Augenmerk fordert. Warum war es nötig, eine These wie diese zu schreiben? Es braucht eine Norm, nach welcher Macht verteilt und zugewiesen wird. Weil die Wesen untereinander gewiss nicht harmonisch koexistieren. Das geht weit über das Freund-Feind-Verhalten einzelner hinaus. Die Rassen verurteilen einander, weil sie hoffen und behaupten, die eigene Rasse sollte den anderen überlegen sein. Asherah und Nishah herrschen friedlich, annähernd pazifistisch. Sie weigern sich, Macht ungerecht zu verteilen, stehen selbst aber an der Spitze der Monarchie. Das verärgert einige und die Ungleichverteilung von Kapital ergibt sich in jeder Herrschaftsform bald von allein. Wohlwollen allein kann nicht jedes Problem lösen. Schlechte Dinge passieren einfach."
Ella verstand nur einen Teil von Kaegans Erklärung, begriff aber worauf er hinauswollte. Er beantwortete ihre Frage nicht, sprach um das Thema herum. Die Realität prangte nicht voller Liebe und Wohlwollen, nur die Könige.
Als die beiden unter einem tiefhängenden Ast hindurchliefen, zupfte Ella ein derbes, rotes Laubblatt von diesem ab und lauschte den Melodien der pfeifenden Irrlichter. Sie zitierte de Mur.
„Aber zwischenmenschliche Konflikte ohne Aussichten auf baldige Änderung enden sehr wahrscheinlich in..."

DU LIEST GERADE
Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasíaIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...