Kapitel 6

20 7 0
                                    

„Wie bitte, was?"
Neu beflügelt sprang Kira aus dem Sitz in den Stand und zog Ella nach. Ihre Hände nahm sie zwischen die eigenen.
„Richtig gehört, ich begleite dich. Du hast dir ein uneigennütziges, ehrenwertes Ziel gesetzt und ich will dir helfen. Die Königsbrüder sind wundervolle Herrscher, ich habe ja gesehen, wie König Asherahs Rede das Volk schockiert und zu Tränen gerührt hat. Ich bin König Nishah schon einmal begegnet, er war gütig, großzügig und so humorvoll! Wenn es eine realistische Möglichkeit gibt, ihr in Stein gemeißeltes Schicksal zu brechen, dann will ich dabei sein, wenn es passiert. Und außerdem fühle ich mich schuldig, weil meine Leute versucht haben dich zu ermorden. Mehrfach. Und noch immer. Also lass mich mitkommen, ja?"
Ella wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Wollte sie Kira wirklich mit auf den Weg nehmen?
„Und du meinst das tatsächlich ernst?"
In der Ferne ertönte ein schrilles Wiehern. Kaegan und Nina befanden sich auf dem Rückweg, befreit von den Rufen und Kampfschreien der Verfolger.
„Todernst. Es heißt doch, wer einmal lügt der glaubt auch keinem anderen. Oder dem glaubt auch kein anderer? Naja, der wird unglaubwürdig, ist egal. Du verstehst schon. Ich habe sowieso gerade und in naher Zukunft nichts vor."
Die überlebensgroßen Farnwedel am Waldrand spalteten und krümmten sich unter den schweren Hufen des Rappen, als er, dicht gefolgt von seiner athletischen Begleiterin, aus dem Dickicht trabte. Beide hielten die Köpfe stolz erhoben und gingen in Schritt über, sobald sie ihre Reiterinnen erblickten. Kaegan ahmte sogar Ninas elegant und stolz gehobenen Schweif kurz nach. Kira jubelte, Ella klatschte in die Hände. Und als sie die beiden so beobachtete, erschien Ella die Idee, die Seherin und die Stute als Vertraute zu gewinnen, lebensbejahend. Die Seherin wurde nicht verrückt wie alle anderen, sie war weder abweisend noch unhöflich, sie gab Ella keinen Grund für Misstrauen.
„Na dann, komm bitte mit."
„Ach ja?"
„Ach ja!", sekundierte Ella und zog sie vor Euphorie in die Arme. Die Umarmung wurde sofort warm erwidert. Nina wurde von dem Anblick dazu ermutigt, auch eine Kuscheleinheit einzufordern und steckte ihren großen Kopf zwischen die beiden. Dabei übte sie zu viel Druck gegen Kiras Schulter aus und stieß das Duo von den Schiefersteinen zurück ins trübe Wasser des Teiches. Jemand schrie, jemand fluchte, am Ende lachten beide. Allerdings fühlte sich das Wasser, nun da sie abgekühlt und zur Ruhe gekommen sind, alles andere als angenehm an.
„Nina, das wirst du bereuen!", keuchte Kira und zog Ella schnell mit sich zurück an das Murmelsteinufer. Unschuldig tänzelte das schöne Vollblut im Kreis um Kaegan, hielt den Schweif gehoben und die Ohren zur Seite geknickt. Während Kaegan hilfesuchend schnaubte und die Mähne auf die andere Seite warf, fuhr Kira Ella mit der offenen Handfläche über den Arm. Beide hatten sie nur noch die Zehen im Wasser aber ein frischer Wind rüttelte an den Baumkronen wie an Windspielen.
„Du hast Gänsehaut", murmelte Kira leise und wandte den Kopf mit sorgenvollem Blick zu Kaegan, „und Wechselsachen habe ich auch keine. Gibt es hier irgendwo ein Dorf in der Nähe? Flüsse werden doch sonst immer rundum bewirtschaftet."
Kaegan stieß einmal laut die Luft aus und sah fragend zu Ella.
„Sie weiß Bescheid.", erklärte das Mädchen und zuckte die Schultern. Mit dem Kopf wippend trottete er an den Rand des Teiches und blickte in die entgegengesetzte Richtung von der Flussmündung. Auch dort entsprang in viel kleinerem Maße ein neuer Flusslauf. Sein Wasser lief gemächlich unter einer Überführung aus kleinen Schiefersteinblöcken hindurch, drohte sich zwischen unzähligen Grasnarben zu verlieren und fand am Ende der Schleife wieder in einer Lehmkuhle zusammen. Als Kaegan antwortete, zuckte Kira zusammen.
„Es existiert eine Magierstadt, ungefähr eine Stunde von hier. Vorausgesetzt wir reiten schnell und ohne Pausen. Die Leute dort haben nicht gern unangekündigten Besuch aber vor den Stadtmauern stehen auch Schenken und Bauernhäuser für Pendler und Leute auf der Durchreise. Um sich aufzuwärmen eignen sie sich gut aber dort wird man ohne Frage nach Ella suchen."
„Okay, das ist ungünstig", erwiderte Kira nachdenklich, „aber jetzt wo wir ein Team sind, ist es auch meine Aufgabe, mich um meinen Partner zu kümmern. Und das werde ich tun. Ella, wirf einfach meine Robe über, sobald wir dort sind, dann wird dich niemand erkennen. Das sind Umhänge, die die Seher bei ihrer Ausbildung oder beim Erreichen der Volljährigkeit erhalten. Es wird geächtet, wenn Nicht-Seher sowas tragen."
Bevor Ella die Chance bekam auf diese Idee etwas zu erwidern, sie hätte dankbar zugestimmt, scheute plötzlich Kaegan neben ihr, tänzelte seitlich und trat mit den Hinterbeinen kraftvoll aus. Die Kluft zwischen übermächtigem Wesen und normalem Pferd wurde von Mal zu Mal kleiner. Ella ergriff mit beiden Händen die wild um seinen Hals peitschenden Zügel und zog daran. Sie wurde in einer Schrecksekunde nach vorn gerissen, konnte sich aber fangen und den schwarzen Hengst dann schnell beruhigen. Dennoch wollte er partout nicht mit dem nervösen Tänzeln aufhören. Während Ella ihm die Hand auf die Stirn legte und ihn zur Ruhe zu bringen versuchte, hatte Kira das Problem erkannt und sich auf die andere Seite begeben, wo sie das seltsam zuckende und ruckende Buch aus der dadurch hart vibrierenden Satteltasche zog. Kaegan warf die Mähne herum und schüttelte den Kopf.
„Hattest du mit dem Pergamenthaufen nicht eine Abmachung?", knurrte er aggressiv und machte Anstalten, nach dem harten Einband zu schnappen. Kira wich zurück und wandte dem Rappen schützend den Rücken zu, das Buch drückte sie an ihre Brust.
„Ich warne dich, wenn du beißt dann beiße ich zurück.", drohte sie ihm, woraufhin Kaegan brummend ein paar Schritte auf Abstand marschierte. Mit den Vorderhufen scharrte er ungeduldig kleine Kuhlen in die Erde. Nina, die gerade an einer Rebe der Trauerweide knabberte und sich dabei an einem Weidenkätzchen verschluckte, wurde von dem Scharren neugierig.
„Das ist also besagtes Buch."
Die Seherin drehte die Schrift in den Händen aber als es erneut versuchte sich aufzuklappen und wie ein hungriger Löwe das Maul aufzureißen, reichte Kira es erschrocken an Ella weiter.
„Also wie gesagt, ich helfe dir wo ich kann, aber das Ding da ist dein Problem. Ist ja gruselig."
„Es...lässt sich öffnen.", flüsterte Ella und schlug die ersten Seiten auf. Tatsächlich bot es ihr eine einzige Seite an, auf welcher offenbar gelesen werden durfte. Oder sollte, um genau zu sein. Der Rest war noch immer fest verkittet. Wiederholt pfiff scharfer Wind über den Teich und kräuselte die kristalline Wasseroberfläche. Die Mädchen zitterten beide. Sie entschlossen sich, in Richtung der Stadt zu reiten und dabei Kira laut vorlesen zu lassen, die das Lesen im Gegensatz zu Ella sehr früh gelernt hat. Auch wenn es einiges an Überredungskunst kostete, bis sie das Buch nochmal anfasste. Zurück in den Sätteln machten sie sich auf den Weg und Ella lauschte Kiras Worten.

Seit unzähligen Wochen regnete es unersättlich, der Wasserfall donnerte immer gewalttätiger und das Wasser trat seit gestern in Intervallen über die Ufer. Eine mächtige Flut bahnte sich an, Flora und Fauna bereiteten sich darauf vor. Der kleine Junge mit den weißen Haaren saß in einer breiten Furche, aus welcher Jahre zuvor der dazugehörige Granitblock herausgebrochen wurde, der nun am Grunde der Wassermassen auf ewig zu ruhen vermag. Es war kalt. Nicht so kalt, dass es ungewöhnlich gewesen wäre, doch fror es ihn in den durchnässten, aufgeweichten Leinen, die seinen schmächtigen Körper ursprünglich hätten schützen sollten. Sein verzweifelter Blick konnte den anderen, den schwarzhaarigen, schon seit dem ersten ohrenbetäubenden Donner, gefolgt von einem grellen Blitz der die Wolkendecke zu zerreißen drohte, nicht mehr finden. Die Welt um ihn herum versank in Chaos und die einzige Konstante, dieser ihm fremde Junge, mit dem er seit jeher noch kein einziges Wort gewechselt hat, der ihn aber niemals aus den Augen ließ, ist verschwunden. Es schien, sie seien zusammen bis ans Ende der Welt gegangen, nur um sich dort zu verlieren.
Die nächste Welle bäumte sich auf, entwurzelte den Baum auf dem der Kleine so gern saß, und schäumte tollwütig auf, als ihre Oberfläche durch stalagmitartige Steinsäulen zu des Jungen Füßen zerrissen wurde. Die weißen Bläschen trieb es durch den Sturmwind bis hinauf in die Baumkronen, wo sie wie Nachtmützen zu einer weißen Masse verschmolzen.
Fragen über Fragen kreisten im Kopf unter den weißen Strähnen, vielleicht ist er ertrunken, wurde von der Strömung mitgerissen, von einem Baum erschlagen, ist geflohen. Es wäre wohltuend gewesen zu glauben, der andere hätte sich wenigstens allein in Sicherheit bringen können, auch wenn das bedeutete, selbst ohne Rückreiseticket in dieser Sackgasse zu verharren, bis irgendwann das rasende Wasser seine Furche erreichte und es zu Ende brachte."

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt