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„Hör mal", unterbrach sie die Hypothese der Seherin, „es freut mich ehrlich, dass dieses Wunder dich gerettet und dir das Leben geschenkt hat aber gerade das sollte dir doch ein Zeichen sein, dass du eben nicht durch den Nebel fahren darfst! Das wird zu einer Suizidmission. Dein Wunder wird dadurch völlig wertlos."
„Hör du mal", erwiderte Kira mit derselben Gefasstheit, „du magst mich vielleicht für verrückt halten, ich kann es dir nicht verübeln, aber ich glaube einfach daran, dass meine Uhr neu aufgezogen wurde, damit ich etwas bewirke. Und ich bin mir sicher, du hast damit etwas zu tun. Aus dem Rudel bin ich die einzige, die bei Verstand geblieben ist. Ich halte das für ein Zeichen. Für mich als Seherin gibt es nach den Attentaten ohnehin kein zu Hause mehr, keine Familie."
Sie beide sahen einander noch ein paar Momente lang schweigend an, dann ließ Ella von Kiras Arm ab. Es war unmöglich, ihrer Überzeugung etwas entgegenzusetzen. Konnte es tatsächlich sein, dass sie von einer höheren Macht zusammengeführt worden sind? Kira wollte sich, wenn nötig, zur Märtyrerin bereiterklären, obwohl sie Ella kaum kannte. Aus diesem Grund galten auch Religionsgruppen und Sekten im Land zum Teil als gefährliche Verbände.
Unisono gaben beide den Pferden die metaphorischen Sporen und setzten den Weg fort.

Die von außen sehr ansehnliche Kneipe bot zur Front links und rechts von dem Eingang mehrere Stellplätze für Pferde und anderes Getier, welches jemand zum Reiten zweckzuentfremden schaffte. Bei der Ankunft der Mädchen dösten dort zwei Packesel und ein Vilmlam. Dies waren sehr elegante Tiere, Hybriden aus Pferden und Gazellen, mit Fell und Gesichtszügen von Wölfen. Das Vilmlam konnte sich in der Schulterhöhe mit Kaegan nicht messen, besaß aber einen aufrechten, langen Hals und Geweihe, mit denen es bis an Ellas Kopfhöhe heranreichen konnte. Sein Sattel setzte sich aus drei verschiedenfarbigen Decken zusammen und machte einen schäbigen Eindruck, der dem Tier nicht gerecht wurde. Als Ella Kaegan an der Anbindestange neben dem hübschen Hybriden zum Stehen brachte, drehte dieser den Kopf und sah zu ihr auf. Die Mähne schimmerte in der nächsten Sekunde so blond, wie auch die Locken des Mädchens und seine Augen besaßen ein tiefes hellgrau. Aber das überraschte nicht. Vilmlämmer spiegelten die Merkmale des Wesens, das sie vor sich haben. So färbte es sich gleich überraschend tiefschwarz in dem Moment, in dem es den sanftmütigen Blick auf den Rappen warf, der daraufhin mit einem Hufschlag drohte. Muffel, dachte Ella und ließ sich aus dem Sattel rutschen.
Das große Gasthaus, so dicht an der Stadtmauer, warf zur späten Nachmittagszeit bereits einen enormen Schatten über den Platz, kühlte den Wind umso mehr herunter und brachte die Mädchen zum frösteln.
„Ella, ich habe ein bisschen Geld. Gehen wir erstmal zu dem Stoffhändler und Schneider hier vorn und besorgen uns trockene Sachen. Wenn die Rede Asherahs veröffentlicht wird und die Suche nach dir publik, sind wir nicht im Vorteil, wenn du dasselbe Kleid und ich die Robe einer Seherin tragen. Die Leute denken am Ende noch, dass ich dich exekutieren will. Und außerdem ist es verdammt kalt."
„Von mir aus gern..."
Ella folgte Kiras Blick, während sie die Zügel locker um die Querstange wickelte, um den Anschein zu erwecken, sie würde das Pferd anbinden. Nina blieb keine Wahl, denn bereits während Kira den Knoten noch machte, zerrte die Stute schon daran und peitschte mit dem Schweif wild um sich.
„...aber können wir uns das überhaupt leisten? Ich habe kein Geld und keine Sachen von Wert. Ich fühle mich schlecht, wenn du die ganzen Kosten schultern musst."
Doch die Seherin zuckte nur desinteressiert die Schultern. Wahrscheinlich gab es im Moment nichts, was sie sich sonst kaufen wollen würde. Also wozu Geld besitzen, wenn man es nicht ausgeben kann?
„Ach, wozu habe ich denn Geld", bestätigte sie den Gedanken, „wenn ich es nicht absetzen kann?", oder zumindest bestätigte sie den Gedanken annähernd.
„Du meinst ausgeben."
„Ja. Klugscheißer. Es läuft aus dasselbe raus."
Natürlich tat es das nicht. Wahrscheinlich wird Kira sie mit diesen annähernd korrekten Sprichwörtern auf kurz oder lang zur Weißglut bringen. Diese Marotte verfügte dennoch über einen seltsam positiven Charm. Also nickte die Goldhaarige nur mit einem amüsierten Schmunzeln auf den Lippen und folgte ihrer Freundin in die Schneiderei. Der dort arbeitende Mann erinnerte in seiner Schürze und den dicken Handschuhen mehr an einen Fleischer als an einen Stoffhändler. Allerdings hatte besagte Schürze pinke Aufnäher und als der Fremde sie mit einem „Na aber Haloooo" im feinsten Sopran, wie bei Kastraten, begrüßte, meinte Ella, das Rätsel gelöst zu haben.
„Wie kann ich euch helfen, ihr Mäuschen?", trällerte er und streifte sich in einem Zug beide Handschuhe ab. Das hättest du dir sparen sollen, sagte Ella nur beinahe laut, denn an den Unterarmen befand sich eine dunkle Matte aus Haaren. Jetzt sah er aus wie ein Werwolf. Generell wies er zweifelhaft viel Ähnlichkeit mit Samuh aus der Hütte der Felddryaden auf. Kira störte das auf den ersten Blick nicht aber aus dem Augenwinkel heraus erkannte Ella, dass auch sie sich ein paar Zentimeter zurücklehnte und verwirrt blinzelte. Bevor einer der beiden zu einer Antwort ansetzte, kam der Mann ihnen zuvor, seine Energiereserven befanden sich offenbar noch auf voller Ladung und bereit verbraucht zu werden. Er beugte sich mit einem Ruck nach vorn und musterte die Mädchen abwechselnd von Kopf bis Fuß. Beide erröteten.
„Oder sagt lieber nichts...herrje. Ihr seht aus, als hätte euch jemand durch den Fleischwolf gedreht. Zumindest die Linke. In Kleidern gebadet? Das spart Zeit und Wasser, ist doch aber eher eine Aktivität für den Hochsommer."
„Ach tja, das Herz will was das Herz will.", sekundierte Kira mit einem verlegenen Lachen. Erstaunlicher Weise korrekt zitiert. Leider verstand ihr Gegenüber die Ironie dahinter nicht und bekannte völlig ernst seine Zustimmung durch ein Nicken. Er konnte kaum älter als Dreißig sein, dabei hatte er aber eine sehr schlechte Körperhaltung.
„Ich nehme an, ihr wollt euch neu einkleiden lassen. Da seid ihr bei mir an der richtigen Adresse! Die Kanker im Stadtzentrum sind vielleicht besser besucht aber das ist einzig und allein der Lage zuschulden, wisst ihr. Die Preise dort sind auch vom Teufel höchstpersönlich in die Schaufenster geklöppelt. Aber hey! Die Magier verdienen gut, für die ist selbst die Miete eines Schlosses noch ein Schnäppchen. Wir einfachen Leute fliegen hier unterm Radar..."
Die Mädchen tauschten fragende Blicke aus. Als der Werwolf das sah, zog er ein Maßband aus der Schürzentasche und nahm Ellas Maße, indem er die Arme ausbreitete und ihr signalisierte, die Pose zu kopieren. Dabei fegte er mit seinen Pranken beinahe eine Schneiderpuppe um. Von seiner Geschichte ließ er sich dennoch keine Sekunde abbringen.
„Ein Beispiel. Die Goldschmiedin rechts von uns hat innerhalb eines Monats mehr Umsatz gemacht als ich und mein Mann in einem halben Jahr zusammen. Da hat sie sich überschätzt und ihren Laden mitten in die Stadt umsetzen lassen. Dort brach sie unterdessen rasch unter der Konkurrenz zusammen und ging bankrott. Magier kaufen nun einmal nicht gern von Nicht-Magiern innerhalb der eigenen Stadt. Morgen öffnet sie wieder nebenan. Arme Frau."
„Und als was arbeitet Ihr Mann?", ging Kira auf das Gespräch ein und lehnte sich an eine Werkbank. Währenddessen maß er Ellas Beinlänge und Taillenumfang.
„Ihr müsst mich doch nicht siezen, wir sind hier alle Freunde! Mein Name ist Fabiho Solem. Mein Mann heißt Kendric, ihm gehört das Hostel gegenüber."
Ob Fabiho weiß, fragte Ella sich, während Kira euphorisch verkündete, sie würden in genau diesem Hostel die Nacht verbringen wollen, dass weder ich noch Kira darauf aus sind, uns aufwendige Klamotten anfertigen zu lassen? So wie er Maß nimmt, bereitet er doch gedanklich eine ganze Modenschau vor.
„Euer Glückstag, ihr Süßen! Kendric wirbt bei sich gelegentlich für mein bescheidenes Stübchen und bietet Rabatte an. Davon wisst ihr offenbar noch nichts, aber ich bin ein ehrlicher Mann. Die Prozente erlasse ich euch ebenfalls. Nun kommt unweigerlich die Frage auf, was ihr bestrebt seid zu kaufen."
Ellas Zahlen notierte er fleißig und winkte im Anschluss Kira heran für dasselbe Procedere. Sie tauschten die Plätze und auch die Rollen, jetzt sprach Ella weiter.
„Wir haben nicht viel Geld, das sollte im Voraus offen auf den Tisch. Eigentlich genügen ein paar völlig unauffällige Alltagsklamotten. Keine extravaganten Schmuckstücke und Anhängsel und bloß keine Kleider. Kleider habe ich satt."
„Mh, das sehe ich", wieder scannte Fabihos Blick Ellas Outfit. „und ich muss gestehen, dass es mir ein Rätsel ist, wie dieser Fetzen überhaupt noch hängt."
Aber das tat er und Ellas Freude darüber hielt sich grenzenlos. Fabiho, der, so vermutete Ella, vielleicht tatsächlich ein Werwolf sein könnte, störte sich an der Tatsache nicht, seine Kreativität im Zaun halten zu müssen. Indes gab er sich mit ihrer knappen Zusammenfassung zufrieden und suchte einige schmuddelig beschriebene Pergamente zusammen.
„Bei den ganzen Härchen auf der Hose deiner Freundin habt ihr entweder eine Schubkarre voll Katzen im Schlepptau oder ihr seid zu Pferde angereist."
„Letzteres.", stimmte Ella zu.
„Wobei ein Karren Katzen auch verlockend klingt.", sekundierte Kira.

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt