„Nein, nein, nein. Was tust du denn da? Ziehst du dich zum ersten Mal selbst an?", jammerte Thanee aufgebracht, als Ella dabei versagte, den Petticoat unter ihrem Kleid zu richten. Einen solchen Zusatz hatte sie noch nie getragen und auch bei der Ankleideprobe ist er nicht dabei gewesen. Nachdem sie zuvor in einem Sessel neben Asherah von erneut aufwallender Müdigkeit überkommen wurde und den verlorenen Schlaf schlussendlich doch nachholen konnte, platzte irgendwann Nishah herein und scheuchte sie zu Thanee, um sich herrichten zu lassen. Jegliches Zeitgefühl ging komplett verloren. Jetzt war sie noch teilweise verschlafen und hatte sich so weit in dem Unterrock verfangen, dass sie ohne Hilfe verloren gewesen wäre. Und Nishahs Schneiderin beklagte sich lieber, anstelle das Kind einfach zu unterstützen. Erwachsene können so anstrengend sein, munkelte sie, sich einige bissige Kommentare verbeißend. Das Ego runterschlucken, Ella. Arme verschränken und Mitarbeit verweigern zieht hier nicht, darauf fällt nur Nishah rein. Wobei er letztes Mal einfach dasselbe gemacht hat...und er am Ende sogar war sturer als ich.
„Um Gottes Willen, nimm die Finger dort weg! Ich kann das nicht mitansehen. Unternimm gefälligst einen Crashkurs, bevor wir das nächste Mal gemeinsam arbeiten müssen. Und knirsch nicht so mit den Zähnen, dieses Geräusch verursacht bei mir die totale Gänsehaut."
Entweder das oder ich beiße zu, dachte sie. Endlich ging die Frau ihr also doch zur Hand. Sie schnürte den Petticoat fester um ihre Hüfte, dass Ella die Luft wegblieb, und strich die Seide darüber glatt.
„Uh, lockert sich das von selbst irgendwann? Oder soll ich bis heute Abend noch ein paar Kilogramm verlieren, wenn ich atmen will?"
Thanee betrachtete sie scharf, verdrehte dann nur die Augen und machte sich erneut an den Schnüren zu schaffen. Nishah soll herkommen und wieder Thanees Opfer sein, Ella hatte es satt.
Bald schon war sie aber wieder in der Lage zu atmen also bedanke sie sich auch etwas freundlicher dafür und kam von dem kleinen Podest herunter. Aus der Kiste fischte sie die gewichtigen Schuhe heraus, gefolgt von dem Schmuck.
„Werden Sie heute auch bei der Feier dabei sein? Ich meine, wenn dieses Outfit meine eigene Kreation wäre, würde ich überall damit prahlen. Das werde ich auch so tun, immerhin trage ich es, aber die Lorbeeren für die Erschaffung heimse ich nicht ein.", stellte das Mädchen klar und ihre Wut erlosch. Sich bei Thanee zu bedanken nahm ihr seltsamer Weise die Spannung. Doch die Schneiderin war völlig durch den Wind und arbeitete schon an dem nächsten Accessoire, einer Augenmaske mit Federn aus samtigem, festem Stoff. An dem unteren Rand nähte sie soeben eine Reihe kleiner Perlen fest. Bei genauerem Hinsehen wiesen ihre Finger viele Muster von Einstichen auf, welche sie sich womöglich manchmal mit der Nähnadel zufügte, einige an dem linken Ringfinger bluteten sogar noch und zwang Thanee, diesen abzuspreizen. Das sah ironischer Weise ziemlich vornehm aus. Existierten für dieses Problem nicht diese kleinen, harten Minibecher, die sich Schneider über die Finger stülpten?
„Sicherlich werde ich dabei sein aber nicht wegen des Kleides. Eine Zeremonie wie diese ist etwas Besonderes. Ich bin mir sicher, dass das Volk Zeit brauchen wird, diese Sache zu verarbeiten."
„Zeremonie? Aber die Könige wollen mich doch nur vorstellen. Denken Sie tatsächlich, dass meine offizielle Anwesenheit ein solch drastisches Problem darstellen wird?"
Sie hielt in der Bewegung inne und sah zu Ella auf, als hörte sie diese Ausführung des Planes zum ersten Mal. Für viele Sekunden sahen die beiden einander in die Augen, bis Thanee sich sprachlos abwandte.
„Nein, mir dir werden sie keine Probleme haben. Ich glaube das wäre die geringste Sorge."
Bevor Ella sich über diese Antwort beschweren konnte, welche mehr Fragen aufwarf als beantwortete, warf die Frau mit plötzlicher Euphorie die Hände in die Luft und schnitt ihr das Wort ab.
„Was willst du überhaupt noch hier?? Husch! Zieh die Schuhe an und nimm die Klunkerchen mit. Dabei soll der König dir helfen, ich habe Arbeit zu erledigen! Ich kann nicht den ganzen Tag im Kleidchen herumstolzieren und einfach nur mit Schön-...mit Anwesenheit glänzen."
„Moment mal, was ist mit-..."
„Husch, hab ich gesagt! Schu! Keine weiteren Fragen."
Völlig perplex stolperte Ella in den Marmorschuhen nach draußen, darauf konzentriert, keine der Wertsachen zu verlieren und gleichzeitig nicht über die eigenen Füße zu fallen, die unter dem zusätzlichen Gewicht den Gehorsam verweigerten. Obwohl die auf einmal beinahe hysterische Frau eben noch hinter dem Arbeitstisch stand, schlug sie schon im nächsten Wimpernschlag die Tür vor Ellas Nase zu. Da schaffte sie es gerade, ihre Fülle an Zweifeln zu zerstreuen beziehungsweise fürs Erste aus der bewussten Wahrnehmung zu verbannen, und nun das! Was wusste Thanee, worüber Ella nicht in Kenntnis gesetzt wurde? Warum die Schneiderin aber nicht sie selbst? Seit ein paar Stunden spielte die Welt verrückt und Ella hasste nichts mehr als Geheimnisse. Und Überraschungen. Und offenbar stand ihr beides bevor.
Anstelle Thanee weiter zu belagern kam Ella zu dem Entschluss, es wohl einfach über sich ergehen lassen zu müssen. Asherah konnte sie nicht fragen, er hatte genug Mühe damit, seine eigenen Probleme unter dieser Maske aus Ruhe zu verbergen. Nishah würde es ihr niemals verraten, denn er konnte, wie bereits festgestellt, unglaublich stur sein. Und hätte er es ihr verraten wollten, wäre dies bereits geschehen. Was Thanee betraf ist der Zug abgefahren, denn ein Klicken in der Tür hinter ihr sperrte sie endgültig aus.
Es wird alles gut werden, redete sie sich ins Gewissen und kämpfte gegen wiederholt aufkommende Frustration an, sie haben es mir versprochen. Betrug existiert auf den Straßen und im Untergrund, vielleicht auch außerhalb der Grenzen dieses Reiches, aber nicht bei uns. Es muss so sein. Aber wer oder was, wenn nicht ich, könnte die Wesen dieser Welt sonst angeblich so aus der Fassung bringen, dass dafür eben ein sogenanntes Kuckuckskind bei Hof in den Schatten gestellt wird? Kuckuckskind, dieser Begriff hinterließ auch ohne dessen Aussprache einen bitteren Geschmack auf Ellas Zunge. Nach Asherahs Erzählung fühlte sie sich in ihrer Haut, in ihrer vermeintlichen Rasse kaum noch wohl. Gemäß der Definition entstammte sie einer langen Reihe von Betrügern. Und dämlichen Betrügervögeln. Endlich ihre Zugehörigkeit zu kennen war ohne Frage ein unbeschreibliches Gefühl, als nehme man ihr eine Last von den Schultern, die schon längst ein Teil von ihr zu werden drohte Dazu erklärte es viele von Ellas Problemen. Trotzdem fühlte sie sich schuldig. Für was genau, das wusste sie nicht.
Also stand das Mädchen einfach da. Unfähig, einen der vielen Gedanken in ihrem Kopf zu greifen, einfach ins Nichts starrend. Bis irgendwann ihr Magen laut knurrte und die Melancholie verscheuchte. Es mussten bestimmt dutzende Minuten verstrichen sein, vielleicht sogar eine Stunde. Wie spät es nun genau war, wusste sie noch immer nicht, weil die einzige Uhr in dem ewigen Gang, deren Ziffernblatt sie aus der Entfernung hätte erkennen können, eine hölzerne Standuhr war, deren linke Seite die Sicht versperrte. Das Pendel schwang völlig lautlos und lag in dem langen Uhrenkörper verborgen. So war Ella sich nicht sicher, ob sie überhaupt funktionierte. Sie trat nah heran, ihre Nase berührte fast schon den Stundenzeiger, und beobachtete geduldig. Zwei Minuten gingen ins Land, der längste Zeiger sprang in dieser Zeit zwei Markierungen weiter. Eine anderthalbe Stunde nach Mittag, kein Wunder also, dass sie Hunger verspürte.
„Ella! Endlich gefunden. Ich muss dringend ein paar Etagen sperren lassen, wenn du zu Besuch kommst. Als eine meiner Feen durch das Fenster der Schneiderkammer gesehen hat, bist du schon weggewesen also habe ich dich direkt davor nicht vermutet."
Schwungvoll flog, gefährlich dicht vor ihr, neben der Uhr eine der Türen auf und Nishah stolzierte aus dem ihr unbekannten Zimmer. Er trug einen sehr pompösen Anzug mit engem Schnitt, hohe Stiefel mit dezenten Absätzen und wahrscheinlich mehr Schmuck als alle Frauen bei Hofe zusammen. Natürlich alles in Weiß und Silber. Sie betrachtend überkreuzte er die Beine elegant im Stand und kaute bewundernd auf seinem Zungenpiercing.
„Du schimmerst wie eine Discokugel.", lachte Ella und drehte sich einmal um die eigene Ache, damit der König auch ihr Outfit in voller Schönheit sah.
„Ich weiß, aber wo sind deine Schmuckstücke? Ich benötige Konkurrenz im Rampenlicht. Und a propos, diese Schuhe waren Thanees Idee, wie läuft es sich in Marmor? Schlimm, oder? Ich kann nicht schon wieder eine Wette verlieren, das kratzt gehörig an meinem Ego."
Und einfach aufhören zu wetten wäre zu einfach, dachte sie sich schmunzelnd. Nishah las die Antwort aus dem Lächeln heraus und wartete nicht darauf, dass sie es zusätzlich laut aussprach. Die Schuhe, gewöhnungsbedürftig aber keinesfalls unbequem, sollten es nicht sein, die des Königs Ego den Todesstoß versetzten. Stattdessen hielt Ella die Hand auf und präsentierte die Accessoires. Er kniete sich vor sie und nahm alles an sich.
„Kümmern wir uns schnell darum und dann Abmarsch in den Vorsaal. Ein paar der wichtigsten Gäste werden eher eintreffen als der Rest und verlangen mit großer Sicherheit einen persönlichen Empfang. Zum Beispiel zwei sehr reiche Männer, die erfolgreich im Handel und in der Produktion von Lebensmitteln sind. Du musst wissen, sie stehen durch ihre Frauen, Schutz-Magierinnen auf Handelsschiffen, in Verbindung zur Welt außerhalb unserer Grenzen und besitzen die exotischsten Gewürze. Auch ich kaufe gelegentlich bei ihnen. Deshalb fehlt auch das Gemälde am Eingang, die haben sich daran festgebissen wie wilde Hunde. Aber erzähl das bloß nicht meinem Bruder, ich will sehen ob ich ihn dazu bekomme zu glauben, ich hätte es wirklich verloren."
„Und wie ist es dort so? Also außerhalb der Grenze."

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Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...