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Und diese Frage war dazu verdammt, auf ewig ungeklärt zu bleiben. Die Antwort darauf kannte nur sein Herz und keine Magie der Welt wusste diesen Irrgarten zu durchqueren.
Er erkundigte sich nicht, welche Zeit Nishah sah. Die Antwort hätte ihm nicht gefallen.
„Na schön, dann erzähle mir von deiner neuen letzten Idee, ich bin ganz Ohr. Aber unter der Bedingung, dass es tatsächlich die Letzte ist."
Als Antwort zwinkerte Nishah ihm zu. Ebenso vielsagend, wie wenn er versicherte, dass zukünftig keine weiteren Wertsachen mehr wie durch Zauberhand aus seinem Schloss verschwinden werden. Bis heute verläuft sich trotz allem die wöchentliche Inventur des weißen Palastes im Sand. Jeder perfektionistisch veranlasste Bedienstete hat schon vor langer Zeit gekündigt, egal wie großzügig die Bezahlung auch auszufallen vermochte. Eigentlich recht faszinierend zu beobachten.
„Vorher habe ich eine Frage...erinnerst du dich an die Geschichte der Liebenden?", fragte Nishah und beugte sich nach vorn, um einen Schluck aus dem glasklaren Teich zu trinken, dessen Wasser er mit zitternden Händen schöpfte. Er kümmerte sich nicht mehr um Hygiene. Asherah nickte die Frage ab und erinnerte sich zurück.
„Ich habe sie vor einiger Zeit Ella erzählt."
„Und glaubst du selbst daran?"
„Es ist eine Geschichte, keine Legende. Ungeachtet dessen, wie oft sie als diese Erwähnung findet. Ich muss gestehen, dass ich nicht mehr weiß, ob ich sie Ella allerdings als Legende erzählt habe...um sie zu beruhigen."
Doch Nishah brummte, unbefriedigt mit der Antwort. Dann rutschte er ein Stück zur Seite, damit er seinen Bruder frontal ansehen konnte. Das Kopfverdrehen bereitete ihm Schmerzen.
„Ich formuliere die Frage anders: Würdest du gern an die Geschichte glauben? An die Möglichkeit, dein Leben zu geben, und dennoch darüber hinaus zu existieren. Mit demjenigen, der dein Herz in seinen Händen hält und es mit allem was er ist beschützt?"
Asherah stützte sich auf die Knie und erwiderte den eindringlichen Blick seines Gegenübers. Für gewöhnlich wusste er immer, was Nishah dachte, aber diesmal stach ihm diese Frage unvorbereitet eine Nadel ins Herz.
„Erzähl mir von deiner letzten Idee, Nishah.", wiederholte er die Aufforderung stattdessen und verweigerte somit die Antwort. Der Mann in weiß akzeptierte es und lehnte sich langsam zurück.

„Ich glaube, ich werde das Ticken meiner letzten Sekunden auf dieser Welt hören, leise und sanft wie die Melodie eines Schlafliedes. Du wirst da sein, Ella auch und eine weitere Person. Ich bin der König der Vergangenheit, ich möchte die mir gehörende Vergangenheit dieser Welt mit ihren Höhe- und Tiefpunkten noch einmal in einem Schnelldurchlauf erleben, sodass ich am Ende mit einem Lächeln auf den Lippen die Augen schließen kann, stolz auf das was war, vorfreudig auf das was kommt. Wir beide haben einen guten Job geleistet, unsere Welt steht stabil jetzt auf eigenen Beinen. Es ist gut, nun der nächsten Generation das Ruder in die Hand zu geben. Mein Körper wird verschwinden, meine Seele zu flüssigem Gold und in den Himmel empor steigen. Es wird nicht schmerzhaft sein, nicht einmal unangenehm. Wenn du mir dann gefolgt bist, schweben wir durch die Unendlichkeit und weisen verirrten Seelen den Weg, so wie es einst unseren jüngeren Versionen widerfuhr. Und wer weiß, vielleicht steht eines Tages auch Ella an einem Scheideweg? Dann finden wir hierher zurück und der Kreis ist geschlossen, die Vergangenheit wiederholt sich. Sie wird ihren Weg gehen und egal wie dieser aussieht, sie wird das Beste daraus machen. Sie wird uns stolz machen, zusammen mit meinem Schützling, den ich bald erwähle."

Nishahs Stimme verstummte. Mit einem Lächeln auf den blassen Lippen und dem Kopf auf dem weichen Gras gebettet beobachtete er, wie die schneeweißen Wolken um die Sonne herum tanzten, ohne sie je zu berühren. Seine Brust hob und senkte sich mit erfüllter Ruhe. Sekunden vergingen, in denen beide das Gesagte schweigend verarbeiteten.
Auf einmal begann die Uhr in seiner Hand zu rattern und ihre Zeiger stellten sich neu ein. So etwas haben nicht einmal sie zuvor miterleben dürfen.
Eine gefühlte Ewigkeit bewegte Asherah keinen Muskel. Als die Uhr verstummte, dauerte es sehr lange, bis er den Kopf drehte und herabsah. Was auch immer sie vorher codierte, nun stand sie auf der doppelten Punkt Zwölf.

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt