5.4

28 7 0
                                    

Der Ackerboden fühlte sich äußerst weich zwischen ihren nackten Zehen an. Der Schmerz ist durch die Monotonie des Reitens gut abgeklungen, die Kraft würde dadurch leider nicht zurückkehren. Selbst die Fingerknöchel verweigerten ein deutliches Klopfen, als sie die Tür endlich ausmachte. Dem Mädchen gelang kaum ein Geräusch als sie gegen das feste Holz schlug. Nach einer Minute gestand Ella sich ein, dass der Versuch nicht nur extrem schwach, sondern auch erfolglos war. Beim zweiten Mal trat sie gegen die Tür. Der kleine Zeh ließ es sie bereuen.
Diesmal öffnete jemand. Ein bulliger, groß gewachsener Mann mit mehr Haaren am Kinn als auf dem Kopf erschien auf der Schwelle und starrte die Fremden ziemlich lange still an. Aus dem Hinterzimmer drangen Gelächter und helles Licht, weshalb man sie wohl nicht beim ersten Mal gehört hat. Jetzt blinzelte der Kerl in der Tür überaus konzentriert gegen die draußen herrschende Dunkelheit an, bevor er das Mädchen genauer betrachtete. Sie musste einen erbärmlichen Anblick liefern, denn seine Mine gewann sekündlich an Überraschung und Sorge.
„Herrje, ein Kind? Allein. Du siehst ja scheußlich aus, was ist dir bloß zugestoßen?", fragte er mit wiedergefundener Stimme und ließ sich vor Ella auf die Knie sinken. Sein Blick scannte jede ihrer Wunden und ließ das Mädchen peinlich berührt den Kopf senken. Es handelte sich bei ihm offenbar um einen freundlichen Mann, ihre Chancen auf etwas Hilfe standen gut. Kaegan ist unterdessen zwei Schritte zurückgetreten und ging wegen seiner Färbung in der Nacht unter. Deshalb dachte ihr Gegenüber, der ein wenig an einen Werwolf erinnerte, Ella wäre allein. Vielleicht war es besser so.
„Ich...Darf ich heute Nacht in Ihrem Stall übernachten? Ich verspreche, keinen Ärger zu-..."
„Aber nicht doch! Was wäre ich für ein Gastgeber, würde ich ein verletztes Kind vor der Tür stehen lassen? Komm herein, komm. Liebling, kommst du mal?"
Ella blieb keine Zeit für eine Antwort oder anderweitige Reaktion, der Werwolf legte ihr achtsam die Hand auf die Schulter und schob sie in die warme Stube. Die Tür fiel ins Schloss, ohne dass jemand einen weiteren Blick nach draußen werfen und eventuell Kaegan erblicken konnte. Aber das Pferd würde sie niemals sich selbst überlassen, wäre es sich der Sicherheit Ellas bei diesen Leuten nicht absolut sicher, also bewahrte sie Ruhe. Als die Frau des Fremden aus dem Nachbarzimmer geeilt kam und das Kind erblickte, fiel sie vor Schreck beinahe in Ohnmacht. In ihrem Arm hielt sie einen Säugling, dem sie ihrem Mann übergab, bevor sie sich vor Ella hockte. Sie war sehr hübsch und bot einen leicht widersprüchliches Bild im Vergleich zu ihrem Gatten. Kurze, schwarze Haare, eine schlanke aber kurvige Figur und reine Haut. Vorsichtig wollte sie zuerst nach Ellas Hand greifen, erblickte aber die Striemen von den Zügeln. Dann entschied sie sich für ihre Wange, wich allerdings vor der Verletzung an ihrer Ohrmuschel zurück. Im Endeffekt schlug sie die Hände zusammen und biss sich auf den Fingernagel.
„Samuh, Liebling, sei so gut und bring mir den Kasten unter der Bank vor dem Kamin. Der mit Tüchern und der Salbe, die ich benutze, wenn du dir mit der Sichel ins Bein haust. Ich nehme das Kind mit in Keijhas Zimmer, wann wollte sie wiederkommen?"
„In einigen Tagen, genauer weiß ich es nicht mehr. Und das mit der Sichel musst du nicht jedem erzählen, Schatz. Ich bringe den Kasten gleich nach oben, soll ich den Gästen erzählen was hier vor sich geht?"
„Sag ihnen, es ist diese herumstreunende Hodäne, die wir manchmal füttern. Erzähle, sie hat eine kleine Verletzung und dass wir dafür den Kasten brauchen."
Er verschwand nickend mit dem Baby auf dem Arm in dem Hinterzimmer, aus dem sie beide zuvor gekommen sind. Die Frau stellte sich als Irenan vor und führte Ella die Treppen hinauf in ein kleines Schlafzimmer. Es war viel enger als der Raum, in dem sie im Schloss wohnte, und doch hatte es etwas Gemütliches. Die blaue Bettdecke des simplen Einzelbettes wurde von Irenan beiseitegeschoben, bevor das Mädchen sich setzten und endlich die Muskeln entspannen konnte. Die Erleichterung konnte ihr deutlich von den Augen abgelesen werden, Irenan setzte sich gegenüber und sah sie ernst an. Zuerst erkundigte sie sich nach ihrem Namen, dann nach der Quelle der unzähligen Verletzungen auf ihrem Körper. Ella fasste sich sehr kurz und beschränkte ihre Antworten nur auf das Wichtigste. Ein Sturz von einem Pferd und viel Pech. Zum Glück hakte die Frau auch nicht weiter nach, sie war damit beschäftigt, die Schrammen und Blutergüsse unter die Lupe zu nehmen.
Als ihr Mann mit den Tüchern und der Salbe kam, stellte er dieselben Fragen erneut, diesmal übernahm seine Ehefrau das Wort. Aus Irenans Mund klang die Sache trocken und erfunden. Die beiden sprachen unglaublich sanft und blickten besorgt auf Ella herab, dabei kannten sie sie gar nicht. Doch es war nicht dasselbe wie damals mit den Königen.
„Also, Ella. Ich trage jetzt die Salbe auf. Sie wird den Dreck aus den Wunden ziehen also müssen wir die Tücher so oft wie möglich austauschen. An stark blutenden Stellen schmerzt es ein wenig aber das ist bei dir dem Anschein nach nicht der Fall. Naja, vielleicht am Ohr schon.", erklärte Irenan, während sie die Salbe aus der Tube zu drücken begann. Samuh schickte sie nach unten zu den Gästen, die Ella wohl gerade beim Trinken und Kartenspielen gestört hatte, und wies das Kind dann an, ihr Kleid auszuziehen. Das tat sie gehorsam und offenbarte damit ein paar mehr Kratzer, von denen selbst Ella noch nichts wusste. Aber in Anbetracht des Stiletts, das sich der Länge nach in König Nishahs Oberschenkel gebohrt hatte, gab es diesen Abend zweifelsfrei schlimmere Schicksale. Von dem Suizid des Attentäters einmal abgesehen.
„Du sagst also, dass es bei der heutigen Feier einen Angriff auf die Könige gegeben hat. Das ist schrecklich, furchtbar! Warst du mit deinen Eltern dort? Dann müssen sie sich unfassbare Sorgen machen."
Dass eine neue Prinzessin angekündigt wurde und dass Ella ebenjene sei, würde die Frau bald schon selbst herausfinden. Es mussten nicht alle Karten auf den Tisch.
„Ich...habe meine Eltern in der Menge aus den Augen verloren aber der Weg nach Hause ist zu lang für mich. Zumindest so wie ich jetzt aussehe. Alle sollten unverzüglich vom Schloss verschwinden und in Sicherheit fliehen, meine Familie hat für den Notfall keinen Treffpunkt vereinbart und wir verloren einander aus den Augen. Eine Bekannte von uns hat mich auf ihrem Pferd in diese Richtung mitgenommen und hier abgesetzt. Morgen breche ich gleich vor Sonnenaufgang wieder auf, versprochen. Ich brauche einfach ein wenig Ruhe."
„Aber sicher doch, Schätzchen. Weißt du, ich habe auch Kinder und würde mein Leben für sie geben. Ich glaube, deine Eltern werden heute nicht ruhig schlafen können, geschweige denn ohne dich überhaupt den Hof verlassen haben. Bist du sicher, dass wir dir nicht helfen sollen, sie zu finden? Deine Verletzungen sind nicht akut. Wir haben einen Planwagen auf dem du während des Weges schlafen könntest."
Irenan ließ sich nicht leicht abwimmeln. Sie schien sich zu weit in das Thema hineinzuversetzen, Ella hätte es besser wissen müssen als irgendwelche Eltern zu erfinden. Aber aus der Geschichte kam sie nun nicht mehr raus. Stattdessen schüttelte sie den Kopf und versuchte das Thema zu wechseln.
„Wenn Sie mir die Frage gestatten, wo bin ich hier überhaupt gelandet? So weit in den Norden habe ich mich vom Zentrum noch nie ganz allein entfernt."
Sie ging damit gar nicht auf die vorhergegangene Frage ein. Irenan betrachtete das Mädchen kurz misstrauisch, kümmerte sich dann aber sofort um die Schrammen auf ihren Knien. Diesmal tat es wirklich weh, als sie die Salbe auftrug.
„Mein Mann und seine Kollegen bauen saisonal verschiedene Getreidesorten an und forschen an Düngemitteln, die die Pflanzen schneller und effektiver wachsen lassen. Ich kümmere mich um den Haushalt, braue Malz und koche verschiedene Salben. Damit verdienen wir unser Geld. Da wir gerade davon sprechen, möchtest du gern etwas essen?"
Wiederholt schüttelte Ella den Kopf. Die Tücher auf ihrer Haut linderten das Stechen in den wunden Stellen geschwind und verströmten nach der Anwendung einen intensiven Duft nach Eukalyptus.
Nachdem ihre Beine fertig verarztet wurden, legte Ella sich auf den Rücken ins Bett. Irenan hängte das kaputte Kleid an den Schrank gegenüber und setzte sich anschließend auf die Bettkannte, um sich nun um die mit blauen Flecken gesprenkelte Hüfte zu kümmern. Nur in Unterwäsche fühlte das Mädchen sich unbehaglich und ein kühler Luftzug verpasste ihr eine Gänsehaut. Da musste sie durch. Es ergab sich eine komische Stille. Ella spielte mit dem Gedanken, Kaegan zu erwähnen und zu fragen, ob er über Nacht in ihren Stall dürfe. Aber dann würde die Geschichte ihrer Flucht die sie Irenan erzählt hatte, nicht mehr einhundertprozentig zutreffend sein und Ella wusste nicht, wie sie das logisch erklären sollte. Sie war zu müde, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, geschweige denn eine Lüge mit einer weiteren Lüge clever zu rechtfertigen. Gedanklich entschuldigte sie sich bei dem Nebelpferd für die Unannehmlichkeit und schloss die brennenden Augen. Woran sie sich dann noch erinnerte, war, dass ihre Gastgeberin eine Frage zu dem Attentat stellte. Nicht aber an ihre eigene Antwort. Und dann hat Irenan begonnen, über ihre Familie und die Entstehung dieser Scheune zu erzählen, weil Ella nicht mehr reagierte und kurz darauf einschlief. Die schweren Glieder konnte sie unmöglich länger ignorieren und diese ganzen sanften, leicht kribbelnden Berührungen während der Behandlung machten sie schläfrig. Durch die in der Ecke glimmende Kerze bekam sie das Gefühl, wieder in ihrem Zimmer im Schloss zu sitzen, denn dort befand sich auch die Lieblingskerze des Mädchens in der gleichen Ecke. Nur verströmte diese hier nicht das geliebte Aroma von Vanille. Und während sie nun gemächlich ins Land der Träume abdriftete, blieb ihr dieser letzte Gedanke im Kopf. Der Gedanke an den Ort, den sie für sich als zu Hause bekannte, und einige schöne Erinnerungen aus vergangenen Monaten kamen auf. 

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt