Der König hinter ihr lachte und lehnte sich vor, um eine Fackel von der Wand abzuklinken und sie mit einem Streichholz zu entzünden. Nishah tat dasselbe, denn hinter ihnen flammte eine zweite Leuchtkugel auf.
„Damit haben wir das erste potenzielle Trauma verhindert.", sagte er und beschwor einen Nebelhaken über ihnen herauf, an den er den Fackelstab hängte. Anschließend ließ er den fellbesetzten Umhang von seinen Schultern rutschen und legte ihn dem Mädchen um.
„Und das Zweite. Dunkel und kalt zu beleuchtet und kuschelig. Die Enge wird auch nicht von Dauer sein, versprochen. Wie fühlst du dich jetzt?"
„Wunschlos glücklich. Vielen Dank."
So musste es sich anfühlen, einen Vater zu haben. Ella stellte sich die Frage danach so oft. Das erste Mal an dem Tag, als er sie nach dem Blitzschlag davor bewahrte, zertrampelt zu werden. Er war so zärtlich damals und das hat sich bis heute nicht geändert. Der Umhang roch verlockend nach Vanille. Es musste geplant gewesen sein, dass sie ihn bekommen sollte, denn Asherah war bekanntlich kein großer Fan dieses Duftes. Er ertrug ihn, weiter nichts. Ella wiederum entspannte es ein wenig, also beobachtete sie an Asherahs Körper gelehnt den Raum, soweit der Radius des Lichtes reichte.
„Ist die Straße die wir nehmen denn noch aktiv?"
Nishah schloss zu ihnen auf. Er hielt seine Fackel in einer Hand, während er mit der anderen noch immer Kibah streichelte, die mittlerweile wieder genüsslich schnurrte. Das wiederhallende Brummen klang wie eine in der Ferne arbeitende Maschine. Eine Antwort seitens Asherah ließ auf sich warten doch irgendwann zuckte er die Schultern.
„Eine Garantie kann ich nicht bieten, dass wir auf niemanden treffen werden, immerhin sind all diese Gänge miteinander verzweigt und unterliegen kaum einer Geheimhaltung. Allerdings ist unser Pfad sehr uneben und eignet sich nicht mehr für Transportwagen. Das hat die Pendler dezimiert. Grund zur Sorge besteht aber nicht. Niemand, von dem eine gewisse Gefahr ausgehen könnte, nutzt einen Händlerpfad, auch keinen Inaktiven. Ich wollte das Thema eigentlich vermeiden anzureißen, um Ella nicht zu beunruhigen. Vielen Dank für deine Diskretion."
„Immer gern."
Aber Ella verspürte keine Angst. Wenn auch nur ansatzweise die Chance bestünde, die Situation könnte aus den Fugen geraten, hätten die Könige ihre Leibgarde an ihrer Seite mitgenommen.
In der Dunkelheit vernahm sie bald konstantes Tropfen, davon abgesehen war es ruhig. Bis jetzt ging von dem angeblich stark verzweigten Weg noch kein einziger Gang ab. Die Wände gewannen an Breite und irgendwann verschwanden die Steinmauern in der Dunkelheit und wurden von dem Licht ihrer Flamme nicht weiter erreicht. Die Zielsicherheit der Männer wog das Kind in der Sicherheit, dass sie hier unten nicht verloren gingen, auch wenn in ihren Ohren ein leichter Druck herrschte, der ihr das Entspannen erschwerte. Und so trotteten die Fünf untertage unter dem Königreich umher. Über welche Entfernung sich dieses Labyrinth erstreckte wusste Ella nicht aber sie malte sich aus, irgendwann einmal die ganzen Ländereien und Verbindungswege durchqueren zu können. Eins nach dem anderen. Vielleicht existierten ganze Städte um die Ecke? Ein Leben ohne Sonne, ohne natürliches Tageslicht, eingeschlossen innerhalb der feuchten Mauern. Und das nur einen Katzensprung entfernt! In ihren etwas zu realistisch angehauchten Gedanken roch es in dieser unterirdischen Stadt vermodert. Die hier lebenden Wesen waren ungebildet oder gar analphabetisch aufgrund der Isolation von dem Rest der Welt, Krankheiten sprossen wie Pilze. Keine Utopie, das stand außer Frage. Oh je, diese Idee wurde zu schnell zu duster.„Wo ungefähr befinden wir uns jetzt?", frage Ella nach einer gefühlten Ewigkeit, als sich der Pfad wieder verengte und ihr komischerweise das Gefühl von Sicherheit vermittelte. Nachdenklich begannen die Brüder zu debattieren, über das Verhältnis von Zeit und Weg in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit und den Ecken, um die sie gebogen sind. Bis sie sich einig waren, verflog nochmal eine geraume Zeit.
„Wenn ich mich nicht irre", sagte Nishah und streckte sich gelangweilt, „sollten wir soeben den Garten hinter uns gelassen haben und meine Stadt tunneln. In meinem Schlosshof gibt es keinen direkten Zugang zu dem Untergrund wie bei Asherah also müsste es bald schon bergauf gehen. Der Ausgang befindet sich in einer alten Kirchenruine auf dem Friedhof im Westen. Vor langer Zeit brannte das Gebetshaus ab, als eine Gruppe Räuber dort bei Nacht einzusteigen versuchte aber unglücklich von mehreren Friedhofsgärtnern überrascht wurde und ein Kampf ausbrach. Irgendetwas fing dabei Feuer, ich erinnere mich nicht mehr, was. Vielleicht haben sie eine Fackel fallenlassen."
„Und wie ging die Geschichte aus?"
„Nicht gut."
Ella sah zu Asherah auf, der sie kommentarlos mit einem Arm bei sich hielt. Wenn Nishah auf diese Weise sprach, verlief auch Nachhaken zwecklos. Aber keine Antwort war auch eine Antwort, der Kampf muss blutig gewesen sein. Gärtner sind entweder Menschen oder Waldelfen, beide konnten sich im Eifer des Gefechts wahrscheinlich nicht beweisen, wenn sie nicht als Kämpfer ausgebildet wurden. Die Gegenüberstellung muss dementsprechend sehr einseitig ausgetragen worden sein.
Ihr Gedankengang wurde bald unterbrochen, als die Hufe ihres Tieres wieder auf festen Stein trafen und sie die angekündigte Steigung erklommen. Die Wände näherten sich unaufhörlich und zwangen Nishah, sich wieder zurückfallen zu lassen.
Die Händler und Räuber damals mussten sehr kleine Wesen gewesen sein, denn es wurde auch noch enger, nachdem Asherah bereits mit eingezogenem Kopf ritt. So eng, dass Ella links und rechts die Hände nicht einmal ganz auszustrecken brauchte, um die feuchten Granitplatten zu streifen. Asherah presste die Füße an Kaegans Flanken und wickelte Ella fester in den Umhang, damit die edlen Kleidungsstücke von dem sie umgebenden Dreck und der Nässe nichts abbekamen. Die Tropfgeräusche und das seltsam schweigsame Echo verloren hinter ihnen an Lautstärke und erloschen bald völlig. Wenigstens die Unannehmlichkeit löste sich von selbst.
„Mein Herr, in schätzungsweise einhundert Metern erscheint gemäß meiner Retroperspektive ein offener Platz mit acht freien Gängen. In mindestens einem höre ich Bewegungen."
„Ich erinnere mich, das letzte Mal habe ich dich vor 45 Jahren mit hier herunter genommen, richtig? Keine Sorge, die oberen Torbögen liegen sehr dicht unter der Handelsstraße. Oft bröckeln durch die Erschütterungen der Wagenräder auf Beton einige Steine aus dem Fundament. Kaegan, du kannst dein empfindliches Gehör etwas einschränken, ich habe alles im Blick, die Schatten warnen mich, wenn sich jemand nähert."
Kaegan schnaubte und zuckte mit den angelegten Ohren. Dank der neu gewonnenen Versicherung begann er, auf dem Mundstück des Zaumzeugs herumzukauen. Das harte Klappern verdrängte die Stille neben dem Hufklacken, welches Ella mittlerweile ausgeblendete und schüttelte die sich bedächtig auf ihren Augenliedern aufwiegende Müdigkeit hinweg. Bei Asherah musste es ähnliche Wirkung zeigen, denn er setzte sich im Sattel aufrechter.
Ich denke nicht, dachte Ella, dass wir uns hier unter der Menge hinwegschleichen, nur um lästigen Fragen zu entgehen. Viele Erklärungen Asherahs der letzten Tage kamen schwammig und nicht lückenlos einher. Er wusste es geschickt zu verbergen, sie wusste es geschickter zu erkennen. Ihn zu hinterfragen war in ihrem Kopf immer als striktes Tabu verankert. Es widersprach allen Maximen, die ihr in der Philosophie so zusagten, und doch hielt sie daran fest. Sie wollte ihn einfach nicht infrage stellen, es war keine Sache des Respekts. Doch schon, aber zumindest nicht in erster Linie, sondern eine Frage des Vertrauens. Erführe sie, dass der Mann in Schwarz ihr etwas verschwieg oder sie sogar belog, wäre ihr Verhältnis nicht mehr dasselbe. Ella mochte ihm vertrauen. Sie nahm die Unwissenheit in Kauf, möge es keine bösen Überraschungen mit sichziehen.
„Und welchen Gang soll ich gehen, mein König?", fragte Kaegan, als sie die kleine Lichtung erreichten und Kibah neben ihm zum Stehen kam. Nishah gab seinem Kätzchen die Sporen und auf einmal sprang sie los, schlug die Krallen in die lehmige Erde und kletterte mit Bravour die Wand nach oben. Der weiße König hatte eine Hand in die Schlaufe am Sattel gewickelt, um in der Senkrechten nicht herunterzustürzen, und leuchtete oben angekommen mit der Fackel in der anderen den Hohlraum aus.
Den vier Gängen vor ihnen schlossen sich vier weitere an, die eine Etage weiter oben wie Gemälde in die Wand gegraben wurden und unmöglich zu erreichen schienen. Den Zweiten von oben wählte Kibah aus und zog sich gewandt hinein. Asherah entschied sich für eine etwas einfachere Methode und erschuf eine Treppe aus festem Nebel, welche Kaegan elegant in kraftvollem Trab bestieg.
„Ich hoffte auf ein abenteuerliches Manöver...Wie ein riesiger Sprung oder ein Heraufklettern über die zusammengebrochene Steinsäule am Rand dort drüben. So ist es doch viel zu simpel.", überlegte Ella laut, warf den Kopf zurück und sah zu Asherah auf. Er schmunzelte.
„Du klingst wie mein Bruder. Heben wir uns den Sechs-Meter-Sprung für das nächste Mal auf, ja? Wir wollen Nishah nicht die Schow stehlen."
„Ich höre euch!"
Oben angekommen schob Nishah gerade seine Fackel in eine leere Halterung aus rostigem Eisen und klopfte die dreckigen Handschuhe aneinander ab.
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Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...