Ein ganzes Korps aus bewaffneten Reitern, königlichen Reitern, bewegte sich im Schachbrettmuster entlang der gesamten von ihr einsehbaren Landfläche. Sie sind nicht unübersehbar viele und langsam, würden allerdings nicht einen einzigen Käfer übersehen, an dem sie vorbeikamen. Asherah meinte es ernst. Er stand den Flüchtenden einen marginalen Vorsprung zu, machte jedoch keine weiteren Abstriche. Vermutlich hat er die Soldaten sogar verdoppelt. Gab er Ella tatsächlich eine Chance oder sollte es lediglich dem Anschein nach so wirken?
Die Grenze, an welcher der noch bedingt schlammige, unstetig Gras aufweisende Erdboden in bewachsenem Acker mündete, konnte nicht einmal Ella, deren Blick über die Schulter wie festgefroren verharrte, entgehen. Blätter, die der Größe ihrer offener Hand mal Zwei entsprachen, peitschten ihr auf einmal um die Ohren. Glücklicher Weise hatte Irenan einen doppelten und robusteren Verband um ihr durch das Stilett gespaltene Ohr gewunden, weshalb diese Stelle als einzige verschont blieb. Kleine Härchen auf der Blattoberseite blieben im Gesicht, bevorzugt Augen und Nase, auf den feuchten Händen und überall auf Kaegan hängen. Sie stachen schmerzlich und reizten ihre Schleimhäute. Sobald der Rappe eine etwas breitere Furche zwischen den Gewächsen ausmachen konnte und den Weg darin in Angriff nahm, wurde das Mädchen im Sattel von kräftigen Niesanfällen geschüttelt. Die Rinne, in der sie nun liefen, war nicht gen Norden ausgerichtet, sondern stark westlich, doch der Fehler konnte ausgeglichen werden, sobald sie die Verfolger abhingen oder das Feld verließen. Dennoch jagte ihr die Kavallerie Angst ein. Den beiden wurde nun ein festgelegtes Tempo vorgegeben. Die Vorreiter, welche sie bald in Suchtrupps überholen werden und vor denen sie sich verstecken müssen, und die massive Reiterei, vor denen sie sich nicht verstecken können, die sie auf keinen Fall einholen darf. Zwischen und parallel mit diesen beiden müssen Ella und Kaegan klandestin einherkommen. Ein harter Wettkampf mit der Zeit.
„Hat die Felddryade dir etwas über diese Felder gesagt? Die Pflanzen sind ungewöhnlich reizend, Gewächse dieser Art traktieren den Körper in der Regel überhaupt nicht.", knurrte Kaegan, der ebenfalls heftig schnaubte und gegen die Härchen ankämpfte. Ella musste kurz in ihren Erinnerungen kramen, fand aber nur eine mögliche Erklärung.
„Sie hat gesagt, dass ihr Mann mit Düngern forscht. Damit die Ernte oder die Pflanzen generell besser werden. Hatschi! Kaegan, ich habe einmal etwas von Mutaten gehört, die Lebewesen – Hatschi! - verändern können. Auch in Dünger."
„Mutanten.", korrigierte er, „Das erklärt das exorbitante Wachstum. So etwas kann gefährlich sein. Ich schlage vor, wir bleiben in der Nische und lenken später ein. Du kannst nicht über die oberen Enden hinweg sehen, wenn du dich in den Steigbügeln aufstellst? Okay, nein, das dachte ich mir, dann ist das Risiko sich zu verirren ohnehin größer, als wenn wir hier bleiben. Versuche, mit dem Kleiderstoff alles abzureiben, was reizt."
Der Anweisung folgend rieb sie so viele der winzigen Haare aus ihren Augen, bis diese wund wurden. Aber die Tränenbildung wollte nicht enden, Ella konnte kaum klar sehen und hustete schwer. Sie brauchte Wasser. Kaegan genau so, seine Ohren zuckten unerbittlich und sein Kopf wippte bei jedem Hufschlag stärker. Irgendetwas verwunderte sie daran aber sie wusste nicht was.
„Das funktioniert nicht! Ich glaube es wird sogar schlimmer. Wir müssen das Zeug rauswaschen sonst hört es nicht auf.", keuchte das Mädchen, von erneutem Niesen unterbrochen. Nochmal schlug ihr ein noch viel größeres Laubblatt mitten ins Gesicht, der Aufprall tat nicht nur weh sondern erwischte sie mit offenem Mund. Krampfhaft hustend krümmte Ella sich im Sattel zusammen und krallte sich blindlings Kaegans Mähne. Ihr blieb die Luft weg und sie rutschte bei vollem Tempo zur Seite, fand aber Halt.
Von Wut gepackt riss sie mit der freien Hand am Sattelknauf, zog sich aufrecht und holte hinter sich das silberne Fangschwert aus der Sattelschlaufe. Aus letzter Kraft heraus schlug sie damit um sich und hieb jedes einzelne Blatt, welches sie zu verbläuen drohte, entzwei. Trotz der Blindheit. So gelang es, das aktuell vorherrschenden Übel nicht noch weiter auszudehnen. Und irgendwann schafften sie es. Die Sonne fiel auf ihre sich spasmisch schließen wollende Augenlider und erwärmte die Umgebung. Kaegan ließ das Feld hinter sich und wurde ungezähmt schnaubend langsamer, nur um daraufhin doppelt so schnell in eine neu gewählte Richtung hinzustoßen. Ella sah den Grund dafür nicht mehr, die fühlte sich, als würden ihre Augen gleich zu bluten beginnen. Und als hätte man ihr tausende Stiletts in die Kehle gestoßen.
„Luft anhalten!"
Es folgten lautes Plätschern und ein holpriges Ende der Tour. Ella verlor ein für alle Mal den Halt und flog kopfüber aus dem Sattel, nur um von kühlem Nass in Empfang genommen zu werden. Wasser, das hatte Kaegan erspäht. Trotz der Warnung verschluckte sie genug davon, um die nächsten Tage davon leben zu können, und tauchte sofort wieder auf, sobald sie herausfand, wo sich Oben und wo Unten befand. Hustens spuckte sie eine Mischung von Wasser, Härchen und Speichel aus und hievte sich ans Ufer. Endlich konnte sie wieder atmen. Die Augen schwollen ihr nicht mehr weiter an, würden aber wahrscheinlich auch nicht so schnell in den Ausgangszustand zurückfinden. Sternchen und Lichter tanzten in ihrer Sicht fröhlich vor sich hin. Während Ella so dort lag, verlor sie einmal beinahe das Bewusstsein und musste sich in den Oberarm zwicken, um dies zu vermeiden. Kaegan watete in der Zeit durch das Wasser und tauchte wiederholt den Kopf unter die dunkelblaue Oberfläche.
„Was wird...aus den Rittern?", fragte sie, mit einer Stimme rau wie Sandpapier. Eine Antwort ließ auf sich warten. Erst nach weiterem Wasserrauschen, gefolgt von energischem Schnauben, schritt das Pferd zurück ans Ufer.
„Die Reiter trugen keine Visiere an den Helmen, sie werden auf dieselben Probleme stoßen wie wir. Ein hohes Gebot bei Hofe ist, handelt es sich um eine Aufklärung, Verfolgung, Fahndung oder anderes, bei dem kein Risiko auf das eigene Leben besteht, so ist im Falle von ernstzunehmender beziehungsweise unbekannter Gefahr der Rückzug einzuleiten. Sie werden das Feld nicht durchqueren sondern umgehen. Bei dem Durchmesser des Ackers bleiben uns ein paar Minuten."
„Die Enzyklopädie?"
„Düfte keinen Tropfen abbekommen haben."
Die einzige größere Satteltasche, die sich am hinteren Ende auf der linken Seite des Sattels befand, beinhaltete Asherahs Buch, welches genau genommen immer noch keine Enzyklopädie war. Ella hatte es dort verstaut, als sie den Abend zuvor in der Nähe der Scheune abgesessen ist. Nun ist Kaegan aber dermaßen schnell und weit in das Wasser gerannt, dass sie sich nicht sicher war, ob der Sattel wie sie selbst auch die Taufe erfahren musste. Dem war zum Glück nicht so. Aber bei dem Sturz wurde dem Mädchen auf einmal klar, welche Ungereimtheit sie die ganze Zeit über unterbewusst quälte.
„Kaegan, seit wann bist du verwundbar?"Kaum fünf Minuten Ritt sind vergangen, da versperrte das nächste Feld mit mutierten Pflanzen ihren Weg. In beide Richtungen erstreckte es sich schier endlos, also waren sie gezwungen, die Seite in Richtung Süden abzulaufen, um eine weitere gen Westen ausgerichtete Nische zu finden. Ein bedauerlicher Rückschritt. Auch den Norden blockierte Grünzeug. Die kleinen Teiche kamen auf den freien Flächen gleichmäßig verteilt vor, ihre Reinheit war zweifelhaft. Ellas Frage hing noch immer ungeklärt in der Luft, schwer wie Blei. Denn vorhin wurden sie von einem einzelnen Reiter überrascht, der inmitten des Feldes die Orientierung verloren zu haben schien und schreiend und schniefend mit seinem Pferd querfeldein gestolpert kam. Nun hatte Kaegan versprochen, eine Antwort zu liefern, sobald sie unbeobachtet und sicher einen Weg in die richtige – oder zumindest nicht in eine völlig falsche – Richtung fanden. Nun war es so weit.
„Der König hat die Verbindung zu mir gebrochen."
„Bitte was?"
„König Asherah hat auf dem Berg, als er dir den Vorsprung gewährte, unsere Verbindung getrennt. Als ich von der Paralyse frei kam. Er hat nicht die Paralyse selbst beendet, sondern das unsichtbare Band, über welches er mich erschuf und am Leben hielt. Aus diesem Grund ist meine Ausdauer begrenzt, aus diesem Grund heilt die Stilettwunde nicht, deshalb habe ich den Sonnenaufgang verschlafen und wäre zwischen den Gewächsen auch beinahe zusammengebrochen. Ich weiß nicht, was mit meinem Körper und Geist über die Zeit geschehen wird aber wir wurden exorbitant geschwächt. Der König hatte nie wirklich das Ziel, dich laufen zu lassen. Er hält deine Idee nicht für das Risiko wert, er ist sich sicher, dass uns der Weg nach Katurah niemals gelingt. Asherah war damals tatsächlich zu schwach, um uns aufzuhalten und hat auf dieses Extrem zurückgegriffen. Aber er wird nicht zulassen, dass du dein Leben für ihn und seinen Bruder riskierst. Einzig zu unseren Gunsten spricht die Tatsache, dass er nun keinen Blick mehr darauf hat, wo wir uns aktuell Befinden und was genau ich weiß. Wenn du mich fragst, hat er dich bewusst in meine Obhut und aus dem Zentrum geschickt, damit zuerst die Attentäter unschädlich gemacht werden können. Als Garantie für deine Sicherheit. Jedoch glaubt er nicht an unseren Plan."
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Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...