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„Dann nehme ich einen robusten und gleichzeitig bequemen Stoff, der sich dehnen lässt. Die Blonde hat wunde Beine, ich werde die Hosen an den innenstellen polstern, damit ihr euch im Sattel die Haut nicht noch mehr aufreibt. Ist es an den Füßen nicht ein bisschen kalt, Goldlöckchen?"
„Naja, die Fußsohlen spüre ich seit gestern schon nicht mehr wirklich."
Hätte Fabiho nicht im Voraus erwähnt, dass sein Mann gegenüber arbeitete, würde Ella infrage stellen, wieso ihm die Rötungen an den Innenseiten ihren Waden aufgefallen sind. Doch so ließ sie diesen Kommentar einfach im Raum stehen. Bei dem Zustand des Kleides und wenn man bedenkt, dass ein Stück von Ellas Ohr fehlte, konnte niemand für einen genaueren Blick an den Pranger gestellt werden. Dankbar nahm sie die Baumwollschuhe entgegen, die er ihr anbot und die wie angegossen passten.
„Ich bin übrigens Ella, meine Freundin heißt Kira. Wir sind nur auf der Durchreise. Aber das hast du dir wohl bereits denken können. Wenn ich mich hier so umsehe dann muss ich gestehen, dass du wirklich Talent zu haben scheinst. Das Kleid hier sieht sehr schön aus, hast du das gemacht?"
„Mhm...", brummte Fabiho Werwolf Solem zustimmend, während er konzentriert zwischen verschiedenen Stoffrollen herumkramte und einige beiseitelegte. „...aber ihr habt eben angegeben, dass es kein Kleid werden soll. Offengesagt mache ich mir große Sorgen um meine Werke, wenn ich deinen aktuellen Fummel betrachte. Dieses Kleid muss einmal wunderschön gewesen sein. Wisst ihr, ich gebe euch für die Übergangszeit Klamotten aus einer Kiste mit abgelegten Sachen. Es ist die braune unter dem Fenster, bedient euch. Wenn ich hart arbeite, könnt ihr die Bestellung morgen in der Früh abholen. Seid so lieb und sagt meinem Mann, dass ich heute Nacht Überstunden mache, wenn ihr gegenüber eincheckt."
Ein Gefühl der Schuld machte sich in Ellas Magen breit, als der Schneider die Bitte aussprach. Nur für sie wollte er sich all diese Mühen machen. Dafür sollte er mehr als die Hälfte des Preises an Trinkgeld bekommen aber die Mädchen waren leider zu knapp bei Kasse. Doch zu widersprechen wagte keiner der beiden. Lange in dieser Stadt zu verweilen kam nicht in Frage, jede Minute, die ausgehandelt werden konnte, wurde genutzt.
Sie warf einen Blick auf die Zeichnungen, die auf einer der Werkbänke ausgebreitet lagen. Schnittmuster und Größenangaben, deren Abkürzungen Ella nicht entziffern konnte. Hübsche Bilder von Reiterhosen, Taillierten Jacken und ein Paar hochhackiger Stiefel. Letzteres augenscheinlich mehr als unpassend für die Steigbügel. Daraufhin fiel ihr Blick auf Kira. Das Mädchen hatte eine Hand suchend bis zum Handgelenk in der Hosentasche vergraben und zog daraus einen winzigen Stofffetzen heraus. Den faltete sie zweimal auseinander und ging damit zu dem Schneider.
„Hier, das ist alles was ich dabeihabe. Aber ich muss noch Abstriche für die Übernachtung und ein bisschen Verpflegung machen."
Fabiho verzog das Gesicht, was selten gute Neuigkeiten symbolisiert.
„Wie wäre das", fragte er stattdessen und setzte sich ihnen gegenüber auf einen Barhocker. Der wirkte ziemlich fehl am Platz, passte aber farblich zu dem Rest des Mobiliars und fiel aus diesem Grund nicht so stark aus dem Rahmen. „Wenn ich euch diese Sachen für ein Minimum des festgelegten Betrages berechne und ihr dafür im Gegenzug eure jetzigen Klamotten hierlasst? Gerade bei dem Kleid erkenne ich einige besondere Stickereien und wertvolle Zusätze. Dieser Brokat am Saum ist zwar ramponiert aber definitiv nicht billig. Sag mal, das ist doch nicht geklaut, oder?"
Kira lachte auf und schüttelte den Kopf. Die Frage war berechtigt, deshalb amüsierte es die Seherin wohl umso mehr. Dass es ein Geschenk der Königsbrüder war, behielten die Mädchen bewusst für sich. Aus diesem Grund fiel Ella die Entscheidung umso schwerer, es einfach auszutauschen. Aber bei solchen Geschenken schien es immer das gleiche Schicksal einzulenken. Die Taschenuhr von ihrem und Asherahs ersten Treffen lag irgendwo im Schloss, vorausgesetzt es wurde nicht Opfer weiterer Anschläge und ging daran zugrunde. Die Schuhe ruhten einer auf der Treppe bei Nishah, der andere bei Asherah. Ellas Schmuck hatte sie entweder bei ihrer Flucht verloren oder in der Scheune von Samuh und Irenan liegenlassen. Wenn jetzt auch das Kleid abhandenkommt, bleibt ihr nur noch Kaegan. Aber den würde Ella um keinen Preis weggeben, selbst wenn ihr Leben davon abhinge. Hoffentlich wusste er das. So viel also zu ihr aber wie stand es um Kiras Umhang?
„Wie wäre das", kam ebendiese Ella zuvor und meldete sich zu Wort. Sie verwendete bewusst den gleichen Wortlaut wie Fabiho. „Wir lassen die Sachen als Pfand hier und geben eine Frist an. Wenn wir es innerhalb der vorgegebenen Zeit schaffen, zurück zu kommen und das nötige Geld aufzutreiben, bezahlen wir dich und bekommen die Klamotten wieder. Wenn wir das Limit allerdings überschreiten oder du aus irgendeinem Grund dringend Geld brauchst, gehört alles dir."
Nachdenklich musterte Fabiho Kira und lehnte sich auch ein bisschen weiter zurück. Aus Ellas Perspektive sah es so aus, als trugen die beiden einen unterschwelligen, für Außenstehende unsichtbaren Kampf aus. Kira gewann.
„Eine Meisterin der Verhandlungen, ich sehe schon. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich nicht beeindruckt bin. Also schön! Wir haben einen Deal. Ich gebe euch einen Monat, um die seltsame Reise zu beenden, die ihr zurzeit bestreitet. Aber danach gehört das alles mir, dann sind Kompromisse ausgeschlossen."
„Deal.", erwiderten die Mädchen zeitgleich und lächelten synchron. Dies fungierte als Auslöser für die Frage, ob sie Schwestern sind. Kira nahm die Zügel in die Hand, verneinte und versuchte dem Fleischer-Schneider-Mischling ihre komplizierte Situation so genau, wenn auch so diskret wie möglich zu schildern. Dabei ließ sie bewusst alles aus, was mit den Königen, den Attentaten und einer Flucht zu tun hatte. Im Endeffekt log sie wie gedruckt eine langweilige Bilderbuchgeschichte zusammen. Ella verlor sich währenddessen wieder in Gedanken. Einen Monat haben sie bekommen. Diese vier Wochen vertraten gleich mehrere Deadlines. Ella stellte sich die Fragen, ob Asherah und Nishah so lange durchhalten können, ob sie selbst und Kira bis dahin schon durch den Nebel, geschweige denn wieder zurückgekommen sind, ob sie bis dahin finden, wonach sie suchen, und vieles mehr. Und natürlich war gar nicht absehbar, wie sich die Karten bis dahin gewendet haben werden. Vielleicht gibt es dann neue Probleme, Ziele und Hindernisse.
„Deine Geschichte beantwortet ehrlich gesagt keines der Mysterien hinter euch beiden aber ich bin keinesfalls neugierig. Also nicke ich jetzt ganz naiv, wende mich wieder meiner Arbeit zu und ihr beide geht nach drüben zu Kendric. Es wird langsam dunkel und junge Mädchen gehören bei Nacht nicht auf die Straße."
Na, wenn der wüsste. Doch niemand widersetzte sich. Kira sah in dem Licht auf einmal ungeheuerlich müde aus und Ella fühlte sich diesem Anblick entsprechend.
„Oh! Eine letzte Frage. Du hast nicht zufällig einen Bruder namens Samuh?"
Ella konnte die Neugierde nicht beilegen.
„Du kennst ihn?"
„Ja. Also nein, nicht wirklich. Irgendwie? Ich habe ihn gestern nur flüchtig kennengelernt und ihr beide seht euch einfach so ähnlich."
„Hach, die Welt ist ein Dorf. Ist er nicht ein Lieber? Und seine Irenan, zuckersüß! Unzählige Geschichten könnte ich über ihn erzählen aber dann käme ich nie zu Potte."
Nochmal bedankten sie sich bei Fabiho, bekamen beide trockene und saubere Hosen und Oberteile aus Leinen für die Nacht und verließen die Schneiderei. Die Pferde haben sich in der Zeit keinen Zentimeter von der Stelle bewegt, ignorierten einander aber gekonnt. Nina kaute auf ihren Zügeln herum. Die feuchte, mit Zahnabdrücken verzierte Querstange vor ihr ließ annehmen, dass diese auch nicht von der Stute verschont geblieben ist. Kaegan und das Vilmlam befanden sich unterdessen in einer Art von seltsamer Konversation. Der Hengst wippte mit dem Kopf und scharrte mit den Hufen auf dem Stein, während das Vilmlam die Farbe änderte und ihn beschnupperte.
„Gibt es hier irgendwo einen Stall oder gemütlicheren Stellplatz für die Pferde? Ich fühle mich unwohl dabei, sie hier vor der Tür zu lassen.", fragte Ella und stieg die wenigen Treppen zum Eingang des Hostels hinauf. Leider war die Antwort bereits absehbar, weil die Gebäude in dieser Straße dicht an dicht standen und ein Stall weit und breit nicht in Sicht war.
„Das leider nicht", antwortete ein Fremder, der auf der Veranda saß und den Ella überhaupt nicht bemerkt hatte. „aber wer hier übernachtet, hat ohne Extrakosten das Recht auf volle Versorgung des persönlichen Reittieres. Dies beinhaltet Fütterung, Reinigung der Sättel, Bürsten des Fells, Kämmen der Mähne, Putzen der Hufe und so weiter. Meine Bediensteten sind äußerst geschult im Umgang mit jeder Art Wesen."
Die Mädchen stoppten abrupt. Bei dem Mann handelte es sich dann offenbar um Kendric. Er saß auf einem in die Veranda eingelassenen Liegestuhl mit dicker Polsterung, hatte die Beine überkreuzt und eine Zigarre zwischen Zeige- und Mittelfinger. Die Haare trug er zurückgebunden, den Bart gestutzt. Er sah in dem spärlich von dem Fenster nach außen scheinenden, seinen Rücken bestrahlenden Licht sehr jung aus aber die Stimme verriet ihn. Auf dem Sitz daneben döste eine tiefschwarze Katze vor sich hin und schnurrte zufrieden.

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt