10.2

22 8 0
                                    

Das fortlaufende Gemurmel ihrer Freundin ignorierte sie fürs Erste. So wie der Klang der Trommeln, kamen aus jeder Richtung Menschen mit ebenjenen Instrumenten umgebunden auf sie zu, bogen um Hausecken, traten aus Scheunen und sogar am Horizont marschierten einige. Die würden wohl noch viel Zeit brauchen, um ihren Standpunkt zu erreichen.
Durch die kurze Ablenkung ließen die Drei den Rest der Hyny aus den Augen und bemerkten somit nicht, wie Verano sich von den anderen abspaltete. Unvorhergesehen legte der Mann einen Arm sowohl und Ella als auch um Kendric und lehnte sich beinahe komplett auf Letzteren. Dies machte sich dadurch erkenntlich, dass Kendric ein wenig in die Knie gezwungen wurde.
„Ihr seid viel zu verklemmt, wir haben euch doch versichert, dass es hier nichts gibt, was euch bedrohlich werden könnte. Solange Kira und Ella ihre wahren Fähigkeiten nicht einsetzen, was auch immer diese sind, werden die Menschen sie automatisch für Hyny Mitglieder oder zumindest weitere Sirenen halten. Sie werden euch nicht blöd kommen. Das Prestige in unserer Community bringt Frieden. Rowdys, Schlägertypen, Provokateure, zu sowas lassen die Hyny sich nicht herab. Ihr wärt überrascht, wie defensiv da sogar die Opposition wird, ganz zu schweigen von unseren Befürwortern."
Bereits seit einer Weile lag ein interessanter Duft in der Luft, Ella bemerkte so etwas für gewöhnlich schnell, dank ihrer Vorliebe für betörende Aromen. Jetzt war sie sich sicher, dass der Hirte dessen Ursprung sein musste. Aus dieser Duftmischung konnte sie einige wenige Zusätze herausfiltern, darunter Salbei, viel Zitrone und sogar Palo Santo. Dieses Holz kannte Ella von einem der Straßenverkäufer in Katurah. Es entfaltet seine vollen Aromen eigentlich beim Verräuchern und setzt dabei neben der ursprünglichen Süße Nuancen von Honig, Vanille und Kokos frei. Leider gab es dieses Holz nur in kleinen Dosen und nicht jeder konnte es erwerben, denn für besonders sensible Nasen wirkte es nicht selten wie ein Aphrodisiakum. Auch Suchtfälle traten auf. Schenkte man den Seemannsgeschichten am Hafen glauben, nutzten nur Prostituierte und frisch verheiratete diese Duftnote als Parfüm. Aber wie lautete noch das altbewehrte, ironische Sprichwort, wenn ein Pirat die große Klappe hatte und sich aufzuplustern versuchte? Wenn der Pirat es nicht weiß, wer dann? Denn er befand sich für den Großteil seines Lebens auf See und sogar hinter der Nebelwand aber zu Hause will er dann den Chef markieren. Fakten und Seemannsgarn einmal beiseite, Verano besaß den Anteil Palo Santo im Parfüm auch. Da Ella anzweifelte, dass er anschaffen ging oder vor kurzem jemandem das Jawort gab, konnte das Gerücht nur von jeder Grundlage entbehrt sein.
„Ich danke dir für die Erinnerung aber ich begrüße es, wenn die Mädchen eine gesunde Vorsicht nicht ablegen würden.", fuhr Kendric ihn an und schob den um seinen Hals geschlungenen Arm beiseite, „Ein paar Erfahrungen vor nicht allzu langer Zeit haben bewiesen, dass die Welt leider nicht nur aus Zuckerwatte und Regenbögen besteht."
Der Schwarzhaarige verlor durch den Schubs für einen Moment seine leichtfüßige Unbeschwertheit und kaute hörbar auf seinem Zungenpiercing. Nishah tat das immer, wenn eine Angelegenheit ihn derart beschäftigte, dass sein Körper die Anspannung abbauen musste aber nicht wusste wie. Unter Kendrics gereiztem Blick trat Verano dann stattdessen zwischen Kira und Ella und legte beiden eine Hand auf die Schulter. Seine plötzliche Zärtlichkeit ließ Ella kaum bemerkbar zusammenzucken.
„Ich weiß, dass meine Sicht auf so Manches unüblich ist, das ist bei uns allen mittlerweile die Norm und dafür muss ich mich nicht rechtfertigen. Ich bin nicht blind für die Realität, auch nicht zu blöd um sie zu begreifen. Ich ignoriere sie einfach, weil das das Leben so viel schöner macht. Aber es zerreißt mir das Herz zu sehen, dass nicht einmal die Kinder von so schrecklichen Schicksalen verschont bleiben. Ihr solltet die rosarote Brille erst verlieren, wenn euch die Welt der Erwachsenen dazu ermutigt, nicht dazu zwingt. Die Hyny leben nicht in der echten Welt. Ihr solltet kein Teil von uns werden, ohne die Alternative zu kennen, denn der Schritt aus diesem Leben hier heraus ist ein Endgültiger. Und er ist gar nicht schön."
Mit Vorsicht und der linken Hand in der Nähe seines Schwertes drängte Kendric den melancholisch dreinschauenden Verano beiseite, weg von den beiden Mädchen. Zum Glück interessierte dies den Hirten sichtlich nicht. Im Gegenteil. Er nutzte die wiedergewonnene Armfreiheit und streckte sich einmal genüsslich, fand dabei sein provokantes Schmunzeln wieder und setzte zum Gehen an. Aber er ging nicht sofort. Die sich nähernden Trommler ausblendend ließ er die Hand voller Ruhe in seiner Tasche verschwinden und holte einen stiftgroßen Stab daraus hervor. In der nächsten Sekunde fühlte Ella, wie das Blut in ihren Adern gefror und ihr Herz kurz aussetzen ließ. Eine messerscharfe Nadel, kaum dicker als ein halbes Dutzend Haare schoss aus dem Stabinneren hervor und lag auf den Millimeter genau an Kendrics Adamsapfel an. Dieser versteifte sich und wagte nicht zu schlucken, geschweige denn in den Gegenangriff überzugehen. Doch genauso wenig wich er zurück. Kendric weigerte sich Ellas Seite zu verlassen. Lächelnd trat Verano näher und zog das edel silberne Fangschwert aus Kendrics behelfsmäßiger Halterung.
„Ich bin dennoch nicht naiv, mein Hübscher.", flüsterte er und sah kurz über die Schulter, um sich zu versichern, dass von den anderen gerade niemand aufpasste. Mit einem sanften Schwung warf er das Fangschwert in die Luft und fing es an der Klinge wieder auf, damit Kendric nach dem Griff fassen konnte. Das tat er auch, ließ es danach jedoch sofort sinken. Zufrieden tat Verano selbiges mit seinem Stab.
„Du bist mir in vielerlei Hinsicht unterlegen, Kendric."
Erneut wurde seine Stimme leiser und Ella musste sich anstrengen, um die Worte zu verstehen.
„Ziehe niemals die Waffe gegen mich oder meine Familie, denk nicht einmal darüber nach. Schaffst du das, mh? Dann haben wir beide nämlich auch kein Problem miteinander."
Kendric nickte bedächtig aber Ella kochte innerlich vor Wut. Und der Kraft nach zu urteilen, mit welcher Kira sich an ihren Oberarm klammerte, ging es der Seherin nicht anders. Vor dem inneren Auge sah Ella in Kendric wieder den Diener, der Anweisungen von dem König persönlich entgegennahm. Untergeben und fähig, das Ego hintanzustellen. In diesem Fall war dies womöglich seine Rettung davor, aufgespießt zu werden. Selbstsicher ließ der Schwarzhaarige seine Waffe genauso schnell verschwinden, wie er sie hervorgezaubert hat, und stolzierte davon. Kendric folgte ihm mit dem Blick, ließ den Kopf aber weiter nach vorn gerichtet. An seinem Hals bildete sich ein einzelner Tropfen Blut.

„Die Hyny, hoa rhi! Wie immer auf den Tag genau und mit Rhythmus in den Fingerspitzen, war auch nicht anders zu erwarten."
Als Erster erreichte sie einer der weniger gefährlich aussehenden, keine Trommel besitzenden Menschen. Die Gesichtszüge glichen denen eines Kindes aber seine langen grauen Haare und greisenhafte Körperhaltung widersprachen dem. Da traf die eine komische, nein, fremde Welt frontal auf eine andere, und Ella steckte mittendrin. Auf die Begrüßung verzichteten die meisten der Dorfbewohner, deren Interesse sich hauptsächlich auf die Vilmlämmer bezog. Sie verwöhnten sie, boten ihnen Futter. Kira und Nina beobachteten das Geschehen neiderfüllt.
„Takko! Ich bin so glücklich, endlich wieder hier sein zu können, wie habe ich eure Musik vermisst! Und natürlich die Gastfreundschaft.", flötete Evva und strahlte wie über beide Ohren. Doch der Grauhaarige stieß schnippisch einen Pfiff aus.
„Pah! So viel Sonnenschein vertrag ich nur in kleinen Dosen. Bin eh nur hier um zu observieren, wer alles in mein Reich eindringt. Sieht akzeptabel aus...wer zum heiligen Grasland sind die drei dort hinten?"
„Die...", wie auch immer er das fertig brachte, tauchte Verano plötzlich wieder hinter Ella und Kendric auf und warf erneut die Arme um die beiden. Während Kendric gar nicht reagierte, schrie Ella diesmal vor Schreck auf, „...gehören zu uns."
Das Mädchen sah fragend zu Kendric auf, doch der zuckte nur mit den Schultern. Diesmal wollte sie nicht so mit sich spielen lassen und drückte sich genervt von dem Hirten weg. Ihr Mitleid mit Kendric, der die ganze Last nun aus eigener Kraft schultern durfte, war zwar stark, aber nicht ansatzweise so stark wie der Drang danach, von Verano wegzukommen, bevor er bei ihr noch einen Herzkasper auslöste. Takko fixierte das Dreiergespann kaum lange genug, um sich auch nur ein einziges Gesicht einzuprägen, nickte dann und zwang sich selbst zu einem Grinsen mit einigen Zahnlücken. Tja, Menschen eben.
„Von mir aus, gut, gut. Aber wenn heute noch einer kommt, macht ihr ihm Feuer unterm Arsch, Leute. Egal was er will."
Ein gutes Dutzend der Menschen schlug fest auf die Trommeln und nickte im Anschluss. „Fein, die Bande hier deckt meine monatlichen Reserven an Gastfreundlichkeit vollkommen. Hyny, ihr bereitet alles für heute Abend vor und spätestens morgen bei Nachtanbruch zieht ihr weiter. Hoa rhi."
„Hoa rhi!", stimmten alle im Chor ein, Takko drehte ohne weitere Umschweife ab und steuerte das nächste Haus an. Wie war das, Gastfreundlichkeit? Evva ist doch wohl nicht sarkastisch gewesen, dann hätte sie den Kerl ja direkt mit dem ersten Satz brüskiert.
Mit der Rundung am Ende seines Hirtenstabes zog Verano Kendric am Nacken an sich heran und fuhr mit dem Zeigefinger dessen Hals entlang, wischte den Blutstropfen ab und betrachtete diesen für einen Moment.
„Nicht einmal gezuckt hast du vor dem Angesicht der Waffe...mh, interessant. Woher kommst du, Kleiner? Militär, Spionage, Untergrundorganisation?"

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt