Kapitel 11

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Vor der Küche angekommen ließ Ella sich aus dem Sattel gleiten und strich Kaegan über die Stirn. Ihre gegebene Stunde lag in den letzten Zügen also durfte sie nicht mehr trödeln.
„Bitte geh Nina suchen und zieht euch zusammen irgendwohin zurück, wo sie keinen Ärger machen kann, okay? Allerspätestens morgen Mittag kommen wir euch holen. Oh, und gib bitte gut auf das Buch acht."
„Natürlich, Mädchen. Wirst du klarkommen?"
„Wegen Kira? Ja...Ja, wir machen weiter wie zuvor. Wie gern würde ich sie auf die Ungereimtheiten ansprechen, aber wenn wirklich etwas im Busch ist, wer weiß wie sie reagiert, wenn sie sich ertappt fühlt. Von Herzen möchte ich glauben, dass Kira alles erklären kann, aber das Risiko können wir nicht eingehen. Es ist schon gut, wirklich...wir haben andere Prioritäten."
„Eine Lüge ist nicht immer gleich einem Verrat."
„...Jetzt geh einfach."
Widerwillig kehrte er ab und trottete davon. Ella wusste genaustens, zu wem Kaegan da zu referieren versucht war, und erstickte den Ansatz im Keim. Schlimm genug, dass sie Kiras Worte kommentarlos so hinnehmen musste, egal wie laut sie nach Betrug brüllten.
Mit einem Blick um die Ecke durch das Tresenfenster checkte sie die Lage. Sierra und Piharva saßen auf Barhockern und studierten eine Karte an der Wand, der Rest konnte demzufolge nicht weit sein. Auch weil das fröhliche Geplapper, welches durch die Ritzen in den Holzrahmen von Tür und Fenstern nach draußen drang, zweifelsfrei nicht nur von den beiden entsprang. Am Rande einer winzigen Theke, über einer Reihe Flaschen mit klaren Flüssigkeiten darin, hing eine Uhr. Ihre Zeiger waren dermaßen fein, dass aus der Entfernung unmöglich eine Urzeit zu ermitteln war. Wäre ohnehin unnötig, immerhin gab es keine exakt vereinbarte Zeit. Ella griff nach der kalten Metallklinke und wollte die Tür öffnen, doch ein fernes Geräusch, nur der Hauch einer Sequenz, ließ sie innehalten. Sie wusste nicht warum aber ihr Gefühl riet ihr, sofort dessen Quelle ausfindig zu machen.
„Kaegan?"
Keine Antwort. Die Sekunde darauf brachte eine weitere Stimme in ihrem Kopf die erste zum Schweigen und drängte sie, postwendend ins Haus zu flüchten. Wie bisher auch siegte die Neugierde. Aus dem fernen, gedrückten Gemurmel ließ sich nicht ein einziges Wort herausinterpretieren, wenigstens aber die Richtung aus der es kam. Kaegan zurückzurufen war nicht möglich, dafür ist bereits zu viel Zeit verstrichen seit seinem Abmarsch. Zudem bestand die Gefahr, die Mädchen in der Küche oder gar die Verursacher der fremden Stimmen könnten sie hören. Wollte Ella handeln, so musste sie dies auf eigene Faust und sofort.
Scharf zog sie Luft durch die zusammengebissenen Zähne ein und ließ die Hand von der Klinke gleiten. Eine raue, metallisch riechende Ablagerung verblieb dafür auf ihrer Handfläche und glänzte kupferfarben im Schein der drinnen hängenden Deckenlampe.
„Herr im Himmel an den ich nicht glaube...hoffentlich habe ich die Zeit noch. Keine Ahnung, wie ich das den Hyny erklären soll.", flüsterte sie und schlich sich an der Hauswand entlang in die nächstgelegene Gasse. Dabei hauchte sie sarkastisch einige Sätze vor sich hin, davon, wie dieses Gespräch aussehen könnte, sollte Ella tatsächlich die Stunde überstrapazieren. „Es tut mir so leid, sie seltsame, unhöfliche Menschenfrau, dass ich nicht rechtzeitig zurückgekehrt bin, aber ich habe etwas gehört und das empfand ich in dem Moment als interessanter. Was genau ich gehört habe? Hah, ja das wüsste ich auch gern. Nehmen sie es nicht persönlich, ihr Essen schmeckt übrigens vorzüglich. Mhm, ja. Genau, dieses Kompliment mache ich Ihnen in ein paar Minuten nochmal, sobald ich es auch probiert habe. Moment mal, was haben sie mit dem Messer vor?"
Diesen Ablauf der Situation galt es in demselben Wortlaut, wenn möglich, zu vermeiden.
„Sie wird mich enthaupten...Und wenn nicht sie, dann Lupic oder Kendric, stellvertretend für Evva. Oder am besten gleich Kira, dann sind alle Zweifel geklärt. Soll sie mir doch in den Rücken fallen, ist mir egal. Ich habe Kaegan, sie nur ein Pferd mit dem Intelligenzquotienten von drei Murmeln, die in einer Blechdose rumrollen."
Unter ihrer Schuhsohle knackte ein Ast, Ella versteifte sich und hielt die Luft an. Aber das Getuschel lief ungestört weiter. Mittlerweile war sie nah genug, um Bruchstücke vernehmen zu können. Trotzdem noch völlig zusammenhangslos und undefinierbar. Doch gab es da etwas Vertrautes. Es lag etwas in der Luft, es zog das Mädchen magisch an, emotional. Sie vertraute darauf, dass, egal wer oder was dort sprach, sie fühlte sich zu ihm jetzt schon hingezogen. Also setzte sie den Fuß wenige Wimpernlängen neben dem entzwei gebrochenen Stöckchen wieder auf und schritt weiter voran. Vorbei an einer hell verputzten Hauswand, dann noch einer, eine Kurve nach links und noch eine Hauswand. Dann sah sie es. Es war tatsächlich ein es, keine Person.
„Ein Irrlicht? Nein, Kaegan hat es mir erklärt...uh, ein...was war es?"
An der Ecke des letzten Hauses hielt Ela sich verborgen und blickte in ein angrenzendes Wäldchen aus mager belaubten Bäumen. In der Finsternis, vielleicht einhundert Schritte entfernt, schwebte ein schwer erkennbares Etwas aus hellblauem Nebel in der Gabelung eines knorrigen Stammes. Seine Erscheinung fluktuierte am laufenden Band, manchmal meinte Ella Haare zu erkennen, manchmal ein Bein oder einen Flügel. Aber all das verblasste prompt wieder, nur um an einer anderen Stelle in anderer Form zurückzukehren. Ein hypnotisierender Anblick. Und Ella gar nicht fremd. Als sie und Kaegan auf dem Weg durch den Grenzgarten ähnlichen Wesen begegneten, hatte der Rappe ihre Fähigkeiten erläutert und nun erinnerte das Mädchen sich angestrengt zurück.

„Du hast noch keine Bekanntschaft mit Waldgeistern gemacht? Soweit ich informiert bin, gibt es eine ähnliche Spezies auf dem Meer in Hülle und Fülle. Leben in Katurah keine?"
...
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ein Geist könnte dich nicht berühren, auch wenn er es wollte. Aber sie sind sehr friedlich. Eine Sprache zu lernen ist für sie unmöglich, für gewöhnlich kommunizieren sie über Körpersprache und können Botschaften übermitteln. Wenn du es schaffst, ihnen klarzumachen, was zu von ihnen willst und nett zu ihnen bist, tun sie mit Freuden alles was du dir von ihnen wüschst. Nur wird man die Kleinen mühselig wieder los."

Ein Waldgeist, so nannte Kaegan sie. Das war definitiv einer, denn er sah denen aus dem Garten zum Verwechseln ähnlich. Zumindest insofern, wie etwas unstet Körperloses etwas anderem unstet Körperlosem ähneln kann. Und wenn es ihm unmöglich war zu sprechen, so gab er die Worte von jemand anderem wieder. Ella konnte weiterhin nicht ergründen, wem diese Stimme zuzuordnen sei, dafür lag zu viel Entfernung zwischen ihnen, aber diese Familiarität wollte einfach nicht den Griff um ihr Herz lockern. Selbst da befremdlicher, gänsehauterregender Hall das Geräusch belagerte.
Auf leisen Sohlen tapste sie von dem hochgezogenen Fundament aus Stein weg und auf den blauen Nebelgeist zu. Entweder bemerkte dieser nichts oder er ignorierte das goldhaarige Mädchen lediglich. Einschläfernd wiegte er sich zwischen den Ästen hin und her, bewegte sich weiter nicht vom Fleck. Hinter einem Buschplante Ella sich in Deckung zu legen und damit möglichst unauffällig etwas mehr von dem Gemurmel zu entziffern. Warum sich verstecken? Das wusste sie selbst nicht, das wollte sie auch nicht. Trotzdem versuchte sie es. Und scheiterte. Ein Windstoß, so stark wie auch kurz, fegte über die Ebene hinweg und schabte gnadenlos an jedem Blatt, riss viele auch mit sich und machte die jämmerlich bewachsenen Äste nochmal eine Spur kahler. Es fror Ella, zitternd rieb sie sich die Arme und diese kurze Unaufmerksamkeit reichte aus, um jegliche Heimlichtuerei zunichtezumachen. Der Waldgeist verstummte nicht, indes mutierte sein Gestammel im Tenor zu lieblichen Seufzern in Sopran, wie das Lachen und Weinen eines Kindes. Leider auch hier vollkommen unverständliche, einzelne Laute. Kaegan meinte zwar, diese Wesen kommunizierten hauptsächlich über Körpersprache, aber dann musste es noch eine Form geben, die eben nicht hauptsächlich Verwendung fand. Gefühlvoll sank die unstete Erscheinung herab und steuerte Ella zielstrebig an.
„Pihihi...hiii.", hauchte es körperlos und ein erneuter Windstoß blies durch Ellas Locken. Sie zitterte.
„Hiiiiih..."
Es raunte, sein Nebel breitete sich aus und schloss sich um Ella wie ein Flügelpaar. So behutsam, dass sie es zuließ. Als stünde sie im Auge eines Sturms traf der blaue Schimmer sie von jeder Seite, erreichte jede Falte in ihren Kleidern und jede Strähne ihrer Haare. Sie streckte die Hand aus, berührte jedoch nur Leere und realisierte, dass das zarte Wesen nicht angefasst werden wollte. Mit einem verstehenden, gleichsam entschuldigenden Nicken zog sie den Arm zurück an den Körper.

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt