8.2

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„Natürlich. Verzeih, ich bin kurz in meinen Gedanken verloren gegangen. Schätze ich."
„Hm, fragwürdig...sehr fragwürdig. Aber annehmbar.", wertete Kendric die Erklärung aus und wendete sich der Tür zu. Sie befand sich in einem nicht weniger fragwürdigen Zustand, hielt aber noch stabil genug, um einigen Spinnen als Stütze für ihre Spinnennetze zu dienen. Die Klinke zu benutzen stand außerfrage, denn die hintere Hälfte wurde vom Rost zerfressen und die vordere Hälfte unter weiteren Netzen begraben, die durch das ganze Ungeziefer, welches sich darin verfangen hat, träge und nach unten gezogen wurden. Kendric sah das zuerst nicht, realisierte es aber rechtzeitig, als er eben nach der Klinke greifen wollte und hielt sofort inne. Glücklicher Weise wusste er sich zu helfen. Anstatt also die Tür auf die herkömmliche Art zu öffnen, zog er den Greis von Fackel aus ihrer Halterung, drehte sie in die Horizontale und stemmte das poröse Schloss mit dem Holzstumpf beiseite. Ella warf einen verstohlenen Blick auf die beiden Schwerter an ihrem Sattel, die diese Sache etwas einfacher hätten machen können und dabei nicht beinahe Kendrics edles Jackett ankokeln würden. Kira erkannte den Blick und grinste belustigt.
„Das hätten wir! Immer herein aber passt auf die Pferde auf. Vor uns liegt noch ein kleines Hindernis."
Ella schritt voran und trat als erste durch die Tür, welche von Kendric mühsam mit dem Fackelhintern nach innen aufgedrückt wurde. Das betitelte Hindernis sprang auch sogleich ins Auge. Zu ihren Füßen lag ein Abgrund, tief darin ein ruhiger aber tiefer Fluss. Er zerschnitt zwei hausbreite Landplatten. Ihn überspannte nur eine einzige, klapprige Brücke mit einer beunruhigend großen Anzahl fehlender Teile. Für die Mädchen würde sie vielleicht kein Problem darstellen aber die Pferde können von den morschen Brettern womöglich nicht getragen werden. Was sich aber dahinter befand, ließ sie für einen Moment alles andere ausblenden.
Auf der abgetrennten, kolossalen Ebene vor ihnen stand zentral ein atemberaubend schöner, mit dunkelblau fluoreszierenden Blättern und Knospen bestückter Baum. Er schlängelte sich mit seinen dicken Stämmen um etwas, was aussah wie eine Ruine, doch sie wurde derart von dem Bewuchs eingenommen, dass nicht einmal ein grober Grundriss zu erkennen geblieben ist. Sicher war nur, dass sie von gewaltiger Größe gewesen sein musste. Es wehte dort ein Wind, ein Wind ohne erkennbare Quelle und mit keinem ersichtlichen Ziel. Er wehte einfach in Kreisen um die zugewucherte Ruine herum und trug dabei hellgrün schimmernde Lichtchen mit seinem Strom.
Erst nachdem das Staunen und die Sprachlosigkeit langsam verebbten, bekam Ella ein Gefühl dafür, dass in dieser Höhle ein erfrischendes Klima herrschte und dass das Atmen endlich einfacher wurde. Ein Schritt näher an die Brücke heran legte den Blick frei auf ein Meer aus neontürkisen Algen, die sich dank der fehlenden Strömung einfach entspannt auf der Wasseroberfläche des Flusses treiben ließen. Nur tierische Lebewesen gab es dort unten weit und breit nicht. Nachdem Kira sich zu ihr gesellte, schloss Kendric die Tür. Genauer genommen lehnte er sie an, denn das Schloss für die Fassung befand sich dank ihm nun außer Reichweite für Falle und Riegel.
„Oh mein Gott im Himmel den ich leugne. Das ist unfassbar!", rief Kira einfach in die Leere und klang dabei sehr empört, weniger entzückt. „Wie kann es sein, dass die schönsten Orte immer versteckt werden? Hier hätte ich mir ein Haus bauen können, das wäre traumhaft gewesen. Warum haben die Könige sich heimlich hierher zurückgezogen?"
„Ich weiß es nicht", gab Kendric zu, „aber irgendetwas hatte es meinem Empfinden nach mit diesem unansehnlichen Gemäuer auf sich."
Unansehnlich. Ella kniff bei diesem Wort die Augen zusammen und sah noch einmal genauer zu dem Baum und dessen Geisel. Auch wenn von dem ursprünglichen Gebäude nicht mehr viel übrig oder zumindest erkenntlich war, an dem sein ehemaliges Aussehen bewertet werden könnte, so erwies es sich dennoch als offensichtlich, dass es niemals hässlich gewesen ist. Nein, der Stein glänzte edel, sogar aus der Entfernung und trotz der Zeit, die seit der Erbauung ins Land gegangen sein musste. Es trotzte sowohl der Zeit als auch der Kraft eines mächtigen Baumes und zwang ihn, sich diesen Umweg zu suchen. Für Ella stand fest, dass diese Ruine ursprünglich nicht gebaut wurde, um ungesehen zu überdauern.
„Ella, es kann sein, dass ich irre, immerhin war ich dort nur einmal kurz zu Gast, aber hing ein Gemälde von diesem Ort nicht irgendwo in dem weißen Schloss? Es ist mir in Erinnerung geblieben, weil es im Gegensatz zu dem Rest nicht von überdimensionaler Größe war und auch nicht extra beleuchtet. Ich glaube sein Platz fand sich neben einem Durchgang, sodass die sich öffnende Tür es verdeckte. Das war vielleicht so groß."
Sie hob beide Hände, streckte jeweils Daumen und Zeigefinger im rechten Winkel voneinander aus und rahmte die Luft mit ungefähr zehn mal zwanzig Zentimetern ein. Doch Ella erinnerte sich nicht an dieses Bild. Sie irrte in Gedanken durch die Flure und Zimmer des Schlosses, konnte allerdings nur sehr wenige Bilder und Kunstwerke noch vor dem inneren Auge reproduzieren. Dennoch war bekannt, dass Nishah eine Vorliebe für künstlerisch abgebildete Fantasiewelten und harmonierende Farbenspiele aufwies. Sich einen solchen Ort zu verewigen lag da überhaupt nicht fern.
„Dann hat einer der Brüder das Bild gemalt?"
„Nein, das war wohl ich.", fiel Kendric missmutig ein und drückte sich an den Mädchen vorbei zu der Brücke. Erfolgreich setzte er damit die Gruppe wieder in Bewegung, konnte den Fragen der Mädchen aber nicht entgehen. Auch wenn er es gern wollte. Die Sache war ihm peinlich, er mied den Augenkontakt auffallend stur und wenig subtil, richtige Antworten lieferte er keine. Es fielen aber auch nur Fragen, wie zum Beispiel, ob er denn auch dieses Landschaftsgemälde in ihrem Zimmer in dem Gasthaus gemalt hat, oder, ob die Könige ihn darum direkt gebeten hatten, und, ob er das als Hobbie tue. Die Antworten, die sie sich aus dem Kopfschütteln und Nicken entnahmen, waren Ja, Nein, Ja. Trotz allem hart zu glauben, dass sich bei einem Job als vierundzwanzig Stunden Leibwächter und -diener noch die Zeit für das Zeichnen erübrigen ließ. Zumindest für Ella, Kira war hin und weg.
„Ich bitte um eine Unterbrechung des Verhöres und jetzt höchste Konzentration. Ich habe diese Brücke seit langem nicht mehr gesehen, dementsprechend auch nicht genauer inspizieren können aber ich komme nicht umhin zu erkennen, dass ihr Zustand sich rapide verschlechtert hat. Die Temperatur des Wassers dort unten befindet sich unter dem Gefrierpunkt, unabhängig von der Wärme hier oben. Nur die Algen halten es davon ab, zu gefrieren. Nein, ich weiß nicht wieso das möglich ist also nimm die Hand runter, Seherin. Wie dem auch sei, greift eure Pferde an den Zügeln und führt sie, auf diese Weise treten sie nur auf die Dielen, die wir Zweibeiner zuvor überquert haben. Wenn es nur knarzt dann ist es in Ordnung, gibt es aber zusätzlich unter euch nach oder fühlt sich gar weich an, dann Alarmstufe rot."
„Du klingst wie ein Offizier, Schenkwirt. Und nenn mich nicht Seherin."
„Nächstes Mal lasse ich dir den Plan via Brieftaube zukommen um ungewünschte Meinungsäußerungen zu umgehen. Leider ist der städtische Züchter aktuell im Urlaub. Und ich nenne dich wie es dir beliebt, wenn du mich nicht als Schenkwirt betitelst als gäbe es an diesem Beruf etwas Negatives."
Die beiden könnten Probleme machen, dachte Ella und hielt sich unparteiisch. Dabei unterband sie die Debatte mit einer simplen Geste. Sie wies auf die Brücke hin, nahm Kaegan bei den Zügeln und legte die freie Hand auf das raue Geländer. Natürlich war ihr klar, dass Kendric zur Sicherheit vornweg gehen wollen wird und sie lag auch nicht falsch. Schwungvoll und leicht huschte der Mann trotz seiner Größe an ihnen vorbei und als erster auf die Brücke, stampfte dann aber testweise wie ein Elefant darüber, dass die erzeugten Schwingungen bis in Ellas Arme hinauf vibrierten. Zu der Überraschung aller hier Anwesenden brach von den Stützbalken bis zum winzigen Schiefer rein gar nichts. Die Gebrechlichkeit stellte sich als Illusion heraus. Weder Ella mit Kaegan noch Kira mit Nina stießen auf ihrem Weg auf Probleme. Dennoch, Kendrics Warnung trug Früchte, denn bis zum bitteren Ende wagte nicht einmal die weiße Stute einen kraftvolleren Schritt als nötig.
Auf der anderen Seite reichte Kendric Ella endlich die Tasche mit den Klamotten. Sie war gewichtiger als gedacht. Dass er die so weit hatte tragen können zeugte von unterschätzter Stärke, selbst wenn Kendric ohnehin einen kräftigen Eindruck machte. Von schmuddeligen Kleidern am Leibe durfte Ella sich bereits vor vielen Monaten freudig verabschieden, dabei hätte es getrost bleiben können. Sie Leinen als Mittel zum Zweck juckten am Körper und die Aussicht auf hochwertigere, angenehmere Sachen reizte ihre Vorfreude im gleichen Maß. Fabihos andere Werke, die die Mädchen zuvor in der Schneiderei unter die Lupe nahmen, legten die Latte sehr hoch und gestalteten die Erwartungen anspruchsvoll. Zumindest bei Ella.
„Kendric! Umdrehen und Augen zu, wenn wir uns umziehen. Oder besser noch, Abflug."
Kommandierend schubste Kira den Mann weg. Dabei zeigte sie auf die Ruine, hinter der er anscheinend warten sollte. Mit einem Ausfallschritt fing er sich, ging danach direkt wieder in einen eleganten, aufrechten Stand über. An Kiras Dreistigkeit störte er sich partout nicht.
„Dass ich mit einem Mann verheiratet bin hast du aber mitbekommen?", erwiderte er gelassen, folgte trotz dessen gehörig der Anweisung und verschwand zwischen den Mauern. Dabei zog er ein leuchtendes Blatt zwischen den Fugen heraus und nahm es mit.

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt