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„Es ist ein Thron."
Ella legte sanft eine Hand auf den Stein, in der anderen ruhte wieder das körperlose Pünktchen. Als sie um ihn herum schritt und den Blick hob, trafen ihre Augen überraschend die eines Kindes. Ein Junge aus Marmor, vielleicht in ihrem Alter oder ein bisschen jünger, saß auf dem Thron. Er stützte auf der Armlehne und blickte zur Seite. Genau dahin, wo sie stand. Seine Mimik war nichtssagend und neutral aber irgendwie wirkte er traurig. Zärtlich, als spürte die Figur ihre Anwesenheit und Berührung, legte sie die Hand an die eiskalte Wange und ließ sie über den in Perfektion gemeißelten Körper gleiten. Er trug ein edles Gewand und viele Ringe. Auf seinem Schoß lag ein Buch. Leider verdeckte seine Hand dessen Einband, falls es überhaupt einen besaß. Über ihm in der weit aufragenden Rückenlehne des Throns gab es eine Gravur. Auch ohne viel Licht erkannte Ella es, bat um sicherzugehen aber nochmals ihr Pünktchen um Unterstützung. In den Stein gehauen stand dort das Bild, welches sich auch auf ihren Schulterplatten befand, nur mit einer kleinen Abänderung. Der Planet besaß hier nicht nur zwei Ringe, sondern drei.
„Hier bist du! Dieses Gemäuer ist ein Irrgarten, so ein Riss in der Wand ist da praktisch. Vielleicht kommt das einmal bei faulen Familien in Mode."
Kira kam durch einen finsteren Torbogen in den Saal. An ihrer hellen Hose hingen viele der Lichter, die mit jedem Schritt abgeschüttelt wurden aber sich sofort wieder anhefteten wie Kletten.
„Sieht aus, als hätten wir beide neue Freunde gefunden. Nur erscheint mir deiner weniger anhänglich. Ein bisschen steif."
Lächelnd wendete Ella sich von der Skulptur ab und präsentierte mit einer milden Handbewegung ihren darin sitzenden neuen Freund.
„Ich habe es Pünktchen getauft."
„Und ich meine Parasit Eins bis Fünfhundert.", brummte die Seherin und klopfte wiederholt die noch grünen Lichter von sich ab. Einige gaben auf und gesellten sich zu denen auf der Statue. Der Rest heftete sich ungeniert zurück an den Stoff.
„Ob da Insektenspray hilft?"
„Du würdest ihnen doch nicht wirklich schaden wollen."
„Ich sehe aus wie ein Lichterfest. Hier unten mag das okay sein, aber sobald Kendric zum Aufbruch anweist wende ich Gewalt an. Was ist das überhaupt für eine Statue, kennst du das Kind? Da wird man ganz betrübt, wenn ich mir diese leidvollen Augen so ansehe."
Kira ging zögerlich auf die Knie, um das abgewandte Gesicht genauer zu betrachten. Es hatte etwas magisches. Aber das Leid, welches sie aus seinem Blick zu lesen meinte, blieb für Ella nur verschleiert am Rande zu erahnen. Stattdessen spürte sie es in jeder Faser ihres Körpers. Was sah dieses Kind, wen oder was beobachtete es? Kira hatte offenbar ähnliche Gedanken, sie drehte den Kopf und folgte dem steinernen Blick. Doch der Saal war leer, egal wie oft sie auch die Perspektive wechselten.
„Vielleicht vermisst er seine Familie", begann die Seherin zu interpretieren und setzte sich auf die Armlehne des Throns, von der der Junge sich abwandte. Von dort folgte sie erneut seinem Blick. „Vielleicht...vielleicht musste er sonst vor Freunden und Bekannten aufgrund seines Ranges den Erwachsenen spielen und in diesem Moment, der diese Skulptur inspirierte, hatte er endlich eine Sekunde für sich. Endlich konnte er sich seiner verlorenen Kindheit bewusst werden und um das trauen, was er aufgeben musste, um diesen Platz auf diesem Thron zu bekommen? Er ist noch so jung, so klein, und trotzdem sieht er aus wie ein wahrer König. Womöglich verlor er seine Eltern recht früh und musste die Kindheit gegen die Bürde der Macht eintauschen? So läuft es doch immer in den Geschichten über königliche Familien. Es wäre auch möglich, dass er-...Oh je, Ella, es tut mir leid, das war nur so-... so dahergeredet."
Als Kira realisierte was sie da von sich gab, rann Ella bereits die erste Träne über die Wange. Sie verstand, dass Kira nur ein bisschen Geschichte erfand und vor sich hin fantasierte, aber selbst wenn es für dieses Kind nicht zutraf, für sie selbst könnte es das sehr bald. Einen Wimpernschlag lang sah sie sich selbst auf diesem Thron sitzen und dabei empfand sie jeden Schmerz, jedes Leid, welches sich in dem Ausdruck dieser Figur widerspiegelte. Kira sprang von dem Thron und zog Ella in ihre Arme.
„Es tut mir leid. Wir werden alles in unserer Macht stehende tun, um die Könige zu retten. Versprochen. Ich verspreche es hoch und heilig. Und dann können wir sie fragen, was es mit diesem Kind auf sich hat. Seine Geschichte könnte ebenso auch wundervoll und traumhaft sein. Vielleicht-vielleicht ist der Hofnarr einfach langweilig."
Mit einer Hand wischte Ella sich die Träne weg und legte den Kopf auf Kiras Schulter. Noch immer erwiderte sie den Blick des Jungen. Er zeigte so viel Charakteristik eines unglücklichen Kindes und zugleich saß er stolz und elegant wie ein Herrscher, wie jemand der bereits einmal durch die Hölle ging und die harte Realität bestens verstand. Auch das kam dem Mädchen bekannt vor. Innerhalb weniger Tage hatte sie sich von einem Kind, das sich nach einem Albtraum zu den Eltern ins Bett flüchtete, zu jemandem entwickelt, der den Tod sah, Attentate überlebte, Intrigen und Kabale erkennen musste und sich gegen die Familie stellte. Und selbst jetzt mit neuen Verbündeten und ausreichenden Gründen um ihr Ziel zu untermauerten, kam Ella sich vor wie eine Verräterin.
„Was auch immer er angesehen hat, es ist schon lange weg. Genauso wie er selbst."
„Aber es kann doch nicht sein", wehrte sich Kira gegen die unausgesprochene Idee, die Sache auf sich beruhen zu lassen, „dass solch eine prachtvolle Stätte und diese wertvolle Skulptur ohne Bedeutung hier stehen, fern von der Zivilisation und von den Königen. Wenn Kendric die Wahrheit sagt und die Brüder hier früher des Öfteren ihre Zeit verbrachten, dann wissen sie nicht nur mit Sicherheit über diesen Jungen Bescheid, sondern sie kannten ihn wahrscheinlich. Dort oben, das ist doch das Zeichen auf deinem Oberteil."
„Das ist es nicht ganz und ich bezweifle, dass Kendric darüber etwas weiß. Denkst du nicht, er hätte es uns gesagt, wenn dem so wäre?"
Mit diesen Worten löste Ella die Umarmung und blinzelte die restliche Feuchtigkeit, die sich angesammelt hatte, weg. Die Mädchen einigten sich darauf, das Schloss weiter zu erkunden. Doch das Thema über dieses Kind sollte mit ihm in dem mysteriösen Saal verbleiben. Denn als sie sich entfernten und auf den Torbogen zugingen, durch welchen Kira zuvor kam da sie Ella fand, drehten beide ein letztes Mal den Kopf, als wollten sie sich von der Statue verabschieden. Auch die Lichter zogen sich behutsam zurück und ließen den Stein in der einsamen Dunkelheit ertrinken. Aber als nur noch sein Gesicht aus dem dunklen Meer hervorstieß, seine Konturen nunmehr spärlich zu erschließen waren, da vermochte Ella erneut in ihre eigenen Augen zu blicken. Die Augen eines hilflosen Kindes, dass seiner Aufgabe nie gewachsen sein würde, selbst wenn sein Genick unter dem Gewicht der Krone nicht brach. Wieder versprach der Anblick nur Angst.
Just dann, als dieser Saal hinter ihnen lag, verließen sie diese Gedanken ebenfalls und mit vermutlich demselben Empfinden atmete Kira mit neuer Kraft auf. Viele der Lichtpunkte verließen ihre Plätze auf der Kleidung der Seherin mit zunehmender Helligkeit in der Umgebung, leider schloss Pünktchen nicht mit auf. Kira bot Ella einen ihrer eigenen Parasiten an aber das Angebot wurde dankend abgelehnt.
„Gehen wir als nächstes nach oben oder unten?", fragte die Seherin, während sie über einen dicken Marmorblock stieg. Dem Anschein nach gehörte er einst zu einem Stützbalken der Decke.
„Ich glaube hier gibt es kein Unten."
„Das grenzt die Möglichkeiten ein. Gehen wir dann hoch oder hoch? Ich tendiere ja für Letzteres."
„Definitiv hoch."
„Gute Wahl."
Ella schmunzelte und kam vor einem Fenster zum Stehen, welches früher einmal mit Buntglasfenstern ausgestattet war. Jetzt existierte lediglich noch der Rahmen und auch gab es keine erkennbaren Überbleibsel, aber in der unteren Ecke auf dem Fensterbrett lag eine hellgrüne Scherbe. Sie hob diese auf hielt sie nach oben in das Licht der fluoreszierenden Blätter des sie umgebenden Baumes. Das Glas befand sich in beinahe makellosem Zustand, obwohl es aus dem Ganzen zerbarsten ist. In diesem Moment kam Kira zurück um die Ecke, ein bisschen genervter als vorher.
„Man, wenn du stehen bleibst dann sag doch was! Ich irre hier herum und quatsche mit mir selbst wie es wohl auch gerade der Rest meiner Leute tut. Das finde ich nicht witzig. Nur wegen...einer Scherbe?"
Sie stieg zu Ella an den Fenstersims heran. Der gereizte Unterton wich augenblicklich ungezügelter Neugierde.
„Denkst du, daher haben die Lichter dort draußen ihre Farbe? Schau, über dem Fenster sind sie grün, nicht blau. Sie haben auch meine Haar- und Augenfarbe nachgeahmt aber die, die im Wind direkt über uns treiben, sind alle grün. Trotz des schimmernden Blaus der Blätter", bemerkte sie und legte das Glas zurück an die Stelle, wo sie es fand. Kira streckte in dem Moment die Hand aus und drehte die Scherbe um. Plötzlich ist das Grün verschwunden, stattdessen war es jetzt gelb. Verblüfft drehte Ella den Kopf zu ihr.
„Finden wir es heraus. Das ist Zweischneidglas, sowas hat bei uns ein Alchemist im Rudel manchmal hergestellt. Eine Farbe auf der einen, eine andere auf der anderen Seite. Doch erkennen kann man es erst, wenn das Glas gedreht wird. Auf diese Weise können beide Seiten verschiedene Abbildungen besitzen, ohne dass die Person auf einer der Seiten etwas von der anderen merkt. Das haben ich und ein Freund vor vielen Jahren an den Fenstern zu unseren Schlafzimmern angebracht. Von außen hielt es jeder für ordinäres einfarbiges Glas aber innen befanden sich Sternenhimmel, das Emblem der Seher oder fantastische Wesen. Hier und da auch mal ein vulgärer Spruch. Solche Spielereien waren nie gern gesehen aber das hielt uns nicht ab. Wie dem auch sei, jetzt aber los, bevor Kendric weiter will. Ich möchte mich noch umsehen."
Also ließen sie testweise die nun gelbe Scherbe auf ihrem Platz liegen und setzten ihren Weg durch das Gemäuer fort. 

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt