„Psst, Kaegan.", presste sie zwischen den Zähnen hindurch, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen und sich ein bisschen von dem Haus entfernt hatte. Da keine Reaktion folgte, ging sie zum Stall. Er setzte sich zusammen aus sechs Boxen, von denen die Hälfte besetzt waren. Die Pferde darin besaßen alle Fellfarben in weiß oder gescheckt, von ihrem Freund keine Spur.
„Kaegan?", fragte sie erneut, woraufhin ein vermeintlicher Schimmel als Antwort laut wieherte.
„Aber nicht doch du."
Das Kind lachte und wollte die Stalltür wieder schließen, als aus der letzten Box auf einmal eine Stimme drang.
„Ella, ich bin hier hinten. Die Ställe werden über Nacht offenbar nicht abgeschlossen also habe ich es mir ein bisschen gemütlich gemacht. Es ist doch nicht schon Sonnenaufgang?"
„Nein, nein.", erwiderte sie und zog die eiserne Schiebetür ins Schloss. Der Steinboden war eisig kalt aber sie wollte nicht rennen, aus Angst, sie könnte die Pferde verschrecken. Es handelte sich allesamt um sehr kräftige Pferde, sicherlich dienten sie der zuvor erwähnten Feldarbeit. Kaegan konnte eh keins davon das Wasser reichen. Dieser lag in der hintersten Parzelle auf einem Bett aus Stroh und sah zu ihr auf.
„Seit wann schläfst du im lieg-...seit wann schläfst du überhaupt?"
„Sprechen wir morgen in der Früh darüber, ja? Was machst du hier? Die Felddryaden sind bekannt für ihre Gastfreundlichkeit, haben sie sich nicht weiter um dich gekümmert?"
Kaegan konnte die Verbände an ihrem Körper unweigerlich sehen und fragte dennoch nicht. Ella gegenüber erwähnte weder Irenan noch Samuh etwas über deren Rasse, deshalb wurde sie neugierig darüber, woher das Nebelwesen das in Erfahrung bringen konnte. Aber sie enthielt sich der Frage ebenfalls. Stattdessen kam sie in die Box und setzte sich neben Kaegan.
„Nein, sie haben sich wirklich fürsorglich gekümmert. Ich schätze so muss es sein, normale Eltern zu haben. Ich bin hier, weil ich einen Albtraum hatte und zu niemand anderem gehen konnte. Ist es okay, wenn ich den Rest der Nacht hier verbringe? Bei dir?"
„Aber natürlich, komm her. Ein bisschen Zeit bleibt uns noch."
Müde lehnte Ella sich an den stämmigen Pferdekörper und machte es sich auf dem weichen, wenn auch etwas stacheligen Stroh bequem. Kaegan war wärmer als gewöhnlich aber für die nächsten Stunden hatte das Kind es erstmal satt, irgendetwas zu hinterfragen. Das Schattenpferd wies glücklicherweise eine starke Ähnlichkeit zu seinem Erschaffer auf, als es sich nach ihrem Albtraum erkundigte. Sie begann zu erzählen. Doch es dauerte nicht lange, da zog es ihr die kleinen wieder Lider zu. Kaegans Herzschlag und seine Körperwärme beruhigten sie, beides war König Asherahs zum Verwechseln ähnlich. Und doch auch so vollkommen anders. Ob sie den Traum bis zu dem Punkt wiedergab, an dem sie erwachte, daran erinnerte Ella sich nicht. Irgendwann driftete sie einfach hinweg und der zweite Schlaf verlief traumlos.Schwaches Licht drang zu ihnen hindurch, zu wenig um Ella auf der Nasenspitze zu kitzeln aber genug um sie zu wecken. Zuerst streckte sie den steifen gewordenen Körper, drückte sich an Kaegan aufrecht und blickt sich um. Der Kopf des Pferdes lag noch ruhig auf dem Stroh aber Ellas Bewegungen weckten auch ihn aus dem leichten Schlummer. Schneller als sie realisierte er, in welcher verzwickten Situation sie sich befanden und legte die Ohren an.
„Das Mädchen! Wo ist das Mädchen?"
Eine Frauenstimme ertönte, gefolgt von der eines Mannes.
„Sie kann doch wirklich nicht weit sein, so wie sie ausgesehen hat. Bist du sicher, dass sie nichts darüber erzählt hat, wohin sie wollte?"
Irenan und ihr Mann kamen aus ihrer Hütte und blickten sich um. Ella verbarg sich neben dem Fenster und lugte vorsichtig um die Ecke, damit niemand sie bemerkte. Sie haben den Sonnenaufgang verpasst, die große, grelle Kugel stand schon fast in ihrem vollen Umfang am Horizont. Erschrocken fuhr Ella zu Kaegan herum und biss sich auf die Unterlippe. Das Bauernpaar entschied sich bald, in der Scheune nachzusehen und nach dem unbekannten Kind zu suchen, weil ihnen die Ideen ausgingen. Doch so weit kamen sie nicht. Fünf Soldaten in glänzender Rüstung näherten sich der Hütte. Sie gehörten ohne Zweifel dem privaten Militär unter Asherah an. Diesen nicht selten vulgären Leuten verdanke Ella auch die große Erweiterung ihres Sprachrepertoires an Schimpfwörtern und Flüchen, welches sie jetzt ungeniert anwandte. Selbst Kaegan schnaubte tadelnd, als sie innehielt um Luft zu holen, und unterbrach ihre Tirade somit.
„Was sollen wir tun, das ist übel! Das ist ganz, ganz, ganz übel! Die beiden werden uns definitiv nicht decken, sie kennen unsere Misere nicht.", fauchte das Mädchen und raufte sich frustriert die Haare. Eine der großen Stalltüren befand sich von der Hütte und der Ansammlung an Soldaten abgewandt. Ella öffnete sie äußerst angespannt und schlich zu der Ecke der Hauswand. Dort beobachtete sie, wie zwei der Männer von den Schlachtrössern absaßen und sich von Irenan ins Haus führen ließen. Der Rest blieb draußen und sah sich träge um. Dem Mädchen fielen passend dazu reihenweise neue Schimpfwörter ein, die die Situation ideal beschreiben würden, aber Kaegan kam ihr zuvor.
„Ella, ganz ruhig, es gibt eine Möglichkeit. Die Sonne geht im Osten auf, im Westen geht sie unter. Wir wollen nach Norden, was siehst du dort?"
Sein ruhiger Bass brachte Ella den Fokus zurück. Tief durchatmend kam sie an die entgegengesetzte Ecke heran, an welcher Kaegan vorbeiguckte. Der Osten, welcher eine pralle Farbpalette der schönsten Pink- bis Blautöne präsentierte, lag von ihnen aus gesehen neben der Scheune, der Westen also hinter dem Stall.
„Wenn Norden dort ist, dann müssen wir dieses Feld durchqueren. Was auch immer dort angebaut wird, es ist hoch genug um darin verloren zu gehen. Aber wenn wir hinter der Scheune hervorkommen, sieht man uns hundertprozentig. Können wir das schaffen?"
„Auf kurzen Strecken wie diesen sind wir weitaus schneller als die Pferde der Soldaten. Sie tragen viel Extragewicht und außerdem wurde ich erschaffen, um sie zu übertreffen. Unser Nachteil liegt darin, dass wir keine Ausdauer haben. Nicht in deinem Zustand. Aber sobald sie uns in dem Feld verlieren, sollten wir sicher sein. Du musst dich nur bis dahin mit aller Kraft im Sattel halten. Auch wenn Asherah nicht selbst hier erscheinen kann, sind seine Suchtrupps nicht zu unterschätzen. Ein Fehler wäre fatal."
„Ich schaffe das schon.", erwiderte sie mit einem schwachen Nicken und griff nach den Zügeln. Das Pferd ging in die übliche Hilfsstellung und so ließ Ella sich in den Sattel sinken. Die Innenseiten ihrer Oberschenkel waren wund und die Tücher boten nur wenig Linderung. Ein paar von ihnen verlor sie schon im Aufsitzen. Es genügte dennoch, es musste. Ella fühlte sich besonders leicht auf dem Pferderücken, was vermutlich daran lag, dass ihr Magen völlig leer war. Irenan hatte ihr etwas zum Essen angeboten aber zu der Zeit fühlte sie sich nicht danach. Nun bereute sie diese Entscheidung, auch wenn es nichts mehr half.
„Bist du bereit? Positioniere dich beim Start wie bei unserem Sprint durch den Tunnel. Die Füße fest in die Steigbügel, Oberkörper nach vorn und Kopf runter. Da du mit den Zügeln nicht gut arbeiten kannst wird es Abhilfe schaffen, dich im Sattel zu halten."
Einmal tief durchatmen.
„Bereit."
Sie folgte der Erklärung und Kaegan machte sich bereit. Zusammen riskierten sie beide nochmal einen Blick um die Ecke. Das Glück spielte ihnen heute wie gestern übel mit, die Soldaten waren schon wieder vollzählig und saßen soeben auf. Wie es aussah, hat es in dem Zimmer nichts Nützliches zu finden gegeben. Und, als wäre das nicht genug, kam Samuh gerade auf die Ställe zu.
Als er den dunklen Pferdekopf hinter der Holzwand hervorlugen sah, rief er ohne zu zögern etwas zu ihnen hinüber. Aber es blieb keine Zeit für Ella, zu versuchen ihn zu verstehen, denn Kaegan schoss augenblicklich los. Der Druck veranlasste Ella automatisch dazu, sich flach nach unten zu drücken. Doch nur temporär, danach richtete das Mädchen sich auf, schlang die Zügel über die Blutergüsse auf den Handgelenken und ließ sich von dem Pferd mit dem Oberkörper aufrecht ziehen. Er hatte die Kraft, sie nicht. Es tat weh aber stabilisierte Ella genug, um sich davon abgesehen selbst im Sattel zu halten. Ausrufe von Seiten der Soldaten gingen durch den pfeifenden, peitschenden Wind völlig unter. Sie haben sie entdeckt. Die Muskeln in Kaegans Körper arbeiteten auf Hochtouren, an seinem Hals glänzten zu ersten Mal Schweißtropfen, die unter der Mähne herunterperlten. Die klebrigen, feuchten Tücher auf Ellas Haut lösten sich eins nach dem anderen ab. Anstelle ihr aber Schmerz zu bereiten, fühlte sie sich seltsam befreit. Das könnte auch daran liegen, dass der die Hütte umgebende, stechende Geruch nach Gewürzen mit zunehmender Entfernung nachließ.
Hinter ihnen trieben die Soldaten ihre Pferde mit Rufen, Schnalzen und Seitenhieben an, schlossen aber nicht auf. Das Scheppern von Armor auf Armor zwischen den Schritten der Pferde verdeutlichte, dass die Verfolger physisch zu eingeschränkt waren, um Ella zu überrumpeln. Das Feld kam näher, die Häscher fielen zurück. Und so verschwammen auch Samuh und Irenan mitsamt dem kleinen Bauernhof zu kleinen Flecken in der Ferne. Der Aufenthalt konnte nicht von Dauer sein aber Ella war den beiden wirklich dankbar und wünschte, sie hätte es ihnen noch sagen können. Und so schwor sie sich, binnen weniger Sekunden vor ihrem Verschwinden inmitten der sündhaft hochgewachsenen Pflanzen, sie würde zurückkehren und sich bedanken. Wenn alles vorbei ist, wenn die Könige von ihrer desaströsen Bestimmung befreit sind, dann kommt sie zurück. Doch dieses Versprechen schrieb sich aus trockener Feder. Es galt dem Vorwand, für den Moment wieder klare Gedanken fassen zu können und ward nicht zukunftsorientiert. Denn ihre Gedanken wurden abgelenkt, bevor der Schwur ins Langzeitgedächtnis überspringen konnte.

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Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...