Der Weg wurde steiler und bald begannen die Pferde zu schnaufen. Auch die Temperaturen ließen zu wünschen übrig, verblieben aber an der Grenze zur Norm. Die Motivation baute erst ein Sonnenstrahl in der Ferne auf, der sich um die Ecke aus einem anderen Gang hervorschob. Ihm folgte ein seltsames Gefühl, welches in Ellas Magen rumorte und sie anregte, sich ein letztes Mal umzudrehen und in die hinter ihnen liegende Schwärze zu blicken, als gäbe es dort noch etwas anderes als nur einen leeren, schwülen Gang.
„Hast du etwas gehört?" Kendric griff nach dem Fangschwert an Kaegans Sattel, blieb aber nicht stehen, sondern ging weiterhin neben Ella her, ebenfalls rückwärts. Die Reaktion von ihm beruhte sicherlich nur darauf, dass Ella etwas vernommen zu haben schien, während er rein gar nichts spürte, und nicht auf Unsicherheit. Aber diese steinernen Kinderaugen in der Dunkelheit konnte er auch nicht bemerken, ihre Illusion am Ende des Tunnels trieb einzig und allein der Prinzessin die Gänsehaut über die Arme.
„Oh nein, nein. Da ist nichts, hoffe ich zumindest, mir ist nur etwas eingefallen. Kendric ich frage mich nur, ob du auch schon einmal in dieser Ruine gewesen bist, sagen wir in der untersten Etage?"
Der Angesprochene ließ die Waffe sinken, blickte aber weiterhin misstrauisch drein. Trotzdem vertraute er auf Ellas Wort und drehte sich elegant im Schritt, dabei knotete er zwei Schlaufen seines Mantels zusammen. Aus ihnen bastelte er behelfsmäßig eine Halterung für das Schwert. Da Ella damit ohnehin nicht umgehen konnte, verkraftete sie den Verlust sehr gut.
„Nein, drinnen war ich nicht, die Könige baten mich jedes Mal draußen auf sie zu warten. Ich habe euch nicht abgehalten, weil mindestens König Nishah ausnahmslos jedes Mal hineingegangen ist und beide versicherten mir aufs Neue ständig ihre Sicherheit."
„Mindestens König Nishah? Sie haben sich manchmal getrennt?", fragte Ella und zog folglich das kleine Stilett aus der Sattelschlaufe. Es war viel handlicher und gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Selbst wenn es ironisch klang.
„Oh ja, ich beobachtete es hier unten nicht selten und dennoch konnte ich mich nie daran gewöhnen."
Während Kendric sprach, zog er ein Band aus der Tasche und band es um Ellas Gürtelschlaufe. Damit hatte sie bald dieselbe provisorische Schwerthalterung wie er. Und das Stilett passte perfekt hinein. Das Mädchen lächelte dankbar.
„In diesem verfallenen Gebäude, so vermute ich, gab oder gibt es etwas, was mit unschönen Erinnerungen für König Asherah verbunden ist. Es sah so aus, als wäre er ebenso wenig damit einverstanden, König Nishah hineingehen zu lassen. Aber abgehalten hat er ihn nie. Einmal brach Asherah die Stille zwischen ihm und mir kurz nachdem sein Bruder hinter den bröckeligen Mauern verschwunden ist und sagte, dass es Nishah einfach zu viel bedeutete, als dass er ihn davon abbringen könne. So gern er es auch täte. Das war sein erster und einziger Kommentar zu dem Sachverhalt. Aber warum fragst du? Gab es dort etwas Ungewöhnliches?"
Bevor Ella etwas erwidern konnte, fiel Kira ein.
„Steine und Lichter, eine Skulptur und viele unechte Türen. Eine Farce!"
„Definiere bitte einmal den Begriff Farce. Ich glaube nicht, dass dir dessen Bedeutung klar ist."
Neugierig traf sein Blick den der Seherin.
„Nein."
Kendric akzeptierte die Abfuhr und führte die Gruppe um die Ecke, aus welcher das Licht kam. Sie mündete direkt in eine Felshöhle mit kreisförmigem Ausgang, der am Fuße eines Berges prangte. Lianen und andere Schlingpflanzen hingen von oben herab, darin verwurzelt wuchs Moos. Diese Kombination setzte einen Vorhang zusammen, durch den die Höhle annähernd unsichtbar wurde und mit der Umgebung verschmolz. Kendric hielt die Hand zwischen die Sonne und seine Augen und griff mit der anderen in den Kragen seines Oberteils, aus dem er einen Anhänger an einer Kette holte. Zwei durch einen Querstrich verbundene Musiknoten, Ella kannte deren Bezeichnung nicht, hingen an einem silbernen Band und Kendric schloss für einen Moment die Augen, während er mit dem Daumen über eine der Noten strich.
„Sieht so aus, als lägen wir perfekt in der Zeit. Seht draußen einmal um die Ecke, nach rechts."
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, Kira lief durch das Grünzeug auf die breite Schotterstraße zu, die kaum zu übersehen war, und visierte die vorgegebene Richtung an. Ella tat es ihr gleich. Ein paar hundert Meter entfernt kam eine kleine Gruppe von Personen in ihre Richtung. Acht massige Planwagen, die von Vilmlämmern gezogen wurden, rollten mit mäßigem Tempo in ihrem Schlepptau über die ebene Straße. Zwei Kinder ritten auf ihnen und vier erwachsen aussehende Männer und Frauen liefen an der Front, sangen und unterhielten sich ausgelassen.
„Das sind die Hyny?"
Kira stemmte sich mit einem neugierigen Blick die Hände in die Hüften. Kendric drückte sich zwischen den Pferden zu ihnen hindurch und lehnte sich an Kaegan. Seufzend nickte er zustimmend.
„Das sind sie, der junge Mann ganz links ist Kefhir. Mit dem Rest habe ich so gut wie nichts am Hut also werdet ihr euch eigenständig erkundigen müssen. Sirenen stehen gern im Mittelpunkt, es sollte keine Schwierigkeiten darstellen, ein bisschen mehr über sie zu erfahren."
Die Vierergruppe winkte ihnen in großen Zügen zu, beschleunigte den Schritt aber nicht. Vermutlich konnten die Vilmlämmer nur in diesem Tempo ihre Ausdauer wahren. In Betracht auf die Größe der Wagen die sie ziehen mussten war es beträchtlich, wie wenige von ihnen überhaupt eingespannt wurden. Eine kleine Herde lief begleitend nebenher, ein Fünfter junger Mann führte sie an.
Je näher sie kamen umso besser konnte Ella die Konstruktion der Planwagen erkennen. Mithilfe eines Holzgestells verbunden rollten sie in Reih und Glied. Ihr Grundgerüst machte einen sehr gewichtigen Eindruck aber anders wäre das Risiko wohl zu groß gewesen, um jedes Gefährt auf rund sieben Meter aufzustocken. Es würde bei jedem Huckel in der Erde drohen umzukippen. Da konnten einem die Zugtiere durchaus leidtun. Kefhir erreichte sie als erster und zog seinen Bruder in eine Umarmung, welche nicht erwidert wurde. Aber daran störte er sich nicht. Der junge Mann lächelte freundlich und reichte daraufhin nacheinander den beiden Mädchen die Hand, zuzüglich entschuldigte er sich für das Auslassen der Knigge zu dem Grundsatz Ladys First. Der Familie stand nun einmal das Vorrecht zu. Bei Letzterem meinte Ella aus dem Augenwinkel zu sehen, wie Kendric den Blick abwendete und etwas sagen wollte, sich aber noch rechtzeitig dagegen entschied. Es wäre nichts Positives geworden, dafür musste Ella keine Gedanken lesen können.
Dass die beiden verwandt sind, vermochte man nicht zu glauben, wenn man es nicht wusste. Kefhir hatte kurze blonde Haare, die voluminöse Locken warfen, und beneidenswert blaue Augen. In Größe und Statur reichten sie sich das Wasser doch von Kendrics geheimnisvoller Aura besaß Kefhir keine Spur. Die drei anderen aus der singenden Vierergruppe stellten sich gleich darauf ungeniert vor, bevor ein Gespräch zustande kommen konnte. Das erste Mädchen hieß Sierra, sie war ebenfalls blond mit dunkelgrünen Augen, auf Ella machte sie einen einschüchternden Eindruck. Sie lächelte nur mäßig und auch wenn sie sich genauso freundlich gab wie Kefhir, war Sierra zweifellos eine Kämpfernatur. Um ihre Schulter hatte ein Junge den Arm gelegt, der grob geraten schon von ein paar der zweifelhaften Substanzen genascht haben musste und auf eigene Faust mit den Planwagen nicht mehr mithalten würde. Er schien von den neuen Leuten gar nichts mitzubekommen, weshalb Sierra die Vorstellung übernahm. Der mysteriöse Geistesabwesende trug den Namen Menor, hatte kurze schwarze Haare und eisblaue Augen. Definitiv gehörte er in die Schublade Bodyguard. Groß, muskulös, einschüchternd, mit Schultern wie ein Schrank und trotzdem konnte Sierra ihn halten. Das eine oder andere Tattoo schlängelte sich die freiliegenden, kräftigen Arme entlang, wobei Menor momentan mehr wie ein riesengroßer, in Trance verfallener Teddybär aussah. Aber Ellas Aufmerksamkeit wurde hauptsächlich von der Dritten im Bunde geweckt, die mit einem strahlenden Lächeln ihre Hand anbot.
„Kefhir hat uns zwar erst kurzfristig aufgeklärt aber es ist mir eine große Ehre euch willkommen zu heißen. Natürlich ist es gar kein Problem, wenn ihr uns begleiten möchtet. Ich bin Evva, mein Freund und ich übernehmen meist die Leitung der Hyny aber einen festgelegten Anführer gibt es nicht.", stellte sie sich vor und Kefhir gab ihr zustimmend einen Kuss auf die Wange. Dieses Mädchen besaß große Ähnlichkeit mit einer der Feen aus König Nishahs Palast. Die braunen, lockigen Haare reichten sogar in dem dicken Flechtzopf bis zu ihren Kniekehlen und ergänzten sich in annähernder Perfektion mit den braunen Augen und den zarten Sommersprossen. Ein gelbes Kleid schmiegte sich an ihren Körper und kam durch die dunkle Haut intensiv zur Geltung, genau wie die goldenen Ohrringe. Sie könnte direkt aus einem Gemälde des weißen Schlosses gesprungen sein.
„Ich danke dir, Evva."
„Aber natürlich! Ganz besonders freue ich mich darüber, den Bruder meines Lieblings kennenzulernen. Auch wenn ihr beiden eure Differenzen hattet oder habt, du gehörst zur Familie, Kendric."
Evva öffnete die Arme und Kendric nahm das Angebot der Umarmung sogar an, wenn auch nur kurz und unpersönlich, sie erhielt dennoch mehr als Kefhir.
DU LIEST GERADE
Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...