Mit jeder Frage verlagerte der Hirte mehr Gewicht auf Kendrics linke Schulter und es sah aus, als könnte er dem nicht mehr lange standhalten. Jedoch hatte auch Kendric bald schon die Faxen dicke und trat mit einem unvorhersehbaren Ruck nach rechts außer Reichweite.
„Wa-...!"
Mit einem dumpfen Knall landete dieser Nerventod endlich wohlverdient auf dem Boden, schnaubte, blieb aber liegen. Sich das zufriedene Lächeln nicht verkneifen könnend streckte Kendric sich und nutzte die Chance, um von der Bildfläche zu verschwinden. Ein letztes Mal drehte er im Gehen den Kopf zu Ella. Sie deutete auf ihre Schultern und formte lautlos das Wort Spikes. Kendric zeigte zustimmend einen Daumen hoch und verschwand dann um eine Hausecke. In der Zeit hatten gut ein halbes Dutzend Vilmlämmer Verano umrundet, wohl um zu sehen, was passiert ist. Dem vom Fell erstickten Fluchen nach zu urteilen, taten sie das aus eigener Intention.„Lupic hat mich gerade angelächelt! Dann liegt's echt an dir."
Bisher nicht die unwirtlichste Begrüßung von Kira, dennoch in den Top 3.
„Ich habe eben Kefhir abgefangen, wie es aussieht ist unser Aufenthalt hier so kurz gezurrt wurden, dass die Wagen gar nicht erst groß platziert und aufgebaut werden. Die Männer kümmern sich darum, wir Mädchen müssen in der Küche aushelfen. Wenn es dunkel ist, wird die Vorführung stattfinden."
Traditionelle Geschlechterverteilung, sehr gern. Lieber half Ella beim Kochen als körperliche Arbeit zu verrichten. Ihre Beine fühlten sich noch immer an wie Pudding. So folgten sie Sierra, Evva, Piharva und den Zwillingen, die den Männern eh nur im Weg wären, durch das Dorf. Hinter einem weiteren Hügel verdichteten sich reihenweise kleinerer Häuser, die auf den ersten Blick überhaupt nicht erkennbar waren. Das erste Häuschen, an dem sie vorbeigingen, hatte unzählige Werbeschilder vor den Fenstern baumeln. Kira laß sie Ella vor. Die Etagen von Eins bis Neun besaßen der Reihe nach einen Schuster, einen Handwerker, zwei Frisöre und Schneider, einen Goldschmied und Handwerker, einen Bäcker. Den Rest erkannte auch die Seherin nicht mehr, die Schrift wurde zu klein.
Hinter ihnen schallte lautes Wiehern durch jede Straße. Jemand versuchte soeben Kaegan das Zaumzeug abzunehmen aber das Tier wehrte sich mit Hand und Fuß, schnappte und stieß die Person bemüht vorsichtig von sich. Doch der Fremde gab sich nicht geschlagen und Ella bekam Sorge, dass er am Ende noch verletzt wurde. Mit einer kleinen Geste deutete sie dem Rappen an, es einfach über sich ergehen zu lassen. Dieser schlug drohend mit dem Huf auf den Stein, dass es Ella selbst aus ihrer Entfernung hörte, senkte aber ergeben den Kopf und zeigte sich bereit, von dem Zaumzeug befreit zu werden. Doch dieses Mal griff der Mann nach dem Sattel, in dessen Tasche sich Asherahs Buch befand. Da breitete sich auch in Ella Panik aus. Zum Glück war sich Kaegan dessen bewusst und tänzelte ausweichend zur Seite. Den Kopf schüttelnd peitschte er die vorn herunterhängenden Zügel umher um schlug sie dem armen Kerl mitten ins Gesicht. Während dieser sich schmerzerfüllt abwendete, rannte Kaegan los und schoss die Straße entlang, vorbei an der Frauengruppe. Nina huschte elegant hinterher. Es sah beinahe so aus, als hätten die beiden wirklich Spaß. Der Mann mit dem nun roten Striemen auf der Wange eher weniger. Verspielt sprinteten die Pferde umher, sprangen über hohe Zäune und flüchteten vor weiteren Menschen, die sie wieder einzufangen versuchten. Natürlich vergeblich.
„Okay, wem gehören die zwei Wildfänge?", fragte eine junge Frag, die von Nina beinahe umgerannt wurde. Sie stand mit verschränkten Armen vor einer Tür mit mehreren Speisekarten am Rahmen. Ella und Kira wechselten einen unsteten Blick, meldeten sich dann aber.
„Großartig", sie rollte mit den Augen, „hoffentlich habt ihr sie im Griff. Geht und fangt sie ein. Wehe euch, wenn irgendetwas zu Bruch geht! Essen gibt es eine Stunde nach Sonnenuntergang, seid also besser flott."
Die Frauen und beiden Kinder traten eine nach der anderen in die Küche. Als Letzte Sierra, die den beiden Mädchen über die Schulter einen drängenden Blick zuwarf. Beide verstanden den Hint. Wenn sie jetzt Mist bauten, fiele das auf die Hyny zurück und schadete deren Reputation.
Kaegan wird mit Sicherheit behutsam sein aber bei Nina klingelten in Ellas Kopf die Alarmglocken. Sie wusste es nur besser, als dies laut auszusprechen. Indes ließen die beiden sich nochmal von der Menschenfrau mit Blicken tadeln und rannten dann umgehend los. Viel Zeit verblieb nicht, denn die Sonne warf bereits mit ihrem letzten sichtbaren Drittel orangerote Farbenspiele auf die Wolken. Und obwohl sie die Luft innerhalb der letzten Stunden deutlich erwärmte, zogen schon die kühlen Winde der Nacht ihre Bahnen über die Landschaft.
„Himmel, Po und Zwirn! Wie sind diese Rosinanten so schnell auf den Berg da drüben gekommen?!"
Kira fluchte und brummte nur genervt, als sie Ellas warnenden Blick wegen der Wortwahl bemerkte. Doch sie lag nicht falsch, Kaegans schemenhafte Umrisse zeichneten sich auf einer Oberfläche ab, die ihn durch ein weitschweifendes Tal von dem Dorf trennte. Nina verschmolz beinahe mit dem dahinter liegenden, weißen Gestein des nächsthöheren Berges. Keine logische Erklärung konnte auch nur ansatzweise rechtfertigen, dass sie diese Entfernung in der kurzen Zeit zurückgelegt haben könnten. Aber das war momentan ohnehin irrelevant.
„Wie fangen wir sie jetzt ein? Wenn Nina einmal in Spiellaune ist, dann kommt ihr eine Partie Fangen wie gerufen. Und sie zu fangen ist für uns beide eine Sache der Unmöglichkeit. Kannst mir glauben, ich musste da schon ein paar Mal durch. Aus Frust Kiesel nach ihr zu werfen hilf übrigens auch nicht, nur so nebenbei erwähnt, die frisst sie, bekommt Bauchschmerzen und bockt dann."
„Sag mal", Ella hob eine Augenbraue und musterte ihre Freundin, „hast du jemals darüber nachgedacht in deiner Zukunft Kinder zu haben?"
„Hm? Noch nicht"
„Bitte, lass es bleiben."
Kira lachte auf und nickte verstehend. Zum Glück fasste sie Ellas Worte nicht als Beleidigung auf. Nach allem was sie schon zusammen durchgemacht haben war es offensichtlich, dass die Seherin ein gute Mutter abgeben würde. Zusammen joggten sie los, schoben gelegentliche Verschnaufpausen ein, joggten weiter. Vor dem nicht ganz so tiefen Einschnitt in den Berg, der von weitem wie ein massives Tal gewirkt hatte, legten sie ihre letzte Pause ein. Jedoch bestand diese nicht ausschließlich aus schwerem Keuchen und tiefem Atmen. Irgendwann ergriff Kira das Wort.
„Hast du schon einmal die Gedanken eines Sehers gelesen?", flüsterte sie und betrachtete die Wolken, unter deren Decke die Mädchen sich versetzt ins Glasgelegt haben. Auch wenn Ella die Antwort kannte, so kam sie ins Stocken. Warum stellte Kira gerade genau diese Frage?
„Ja, schon mehr als einmal. Aber immer nur versehentlich. Damals habe ich noch nicht gewusst, was ich bin."
„Oh..."
Oh? War das alles? Die sich nun ausbreitende Stille brachte keine Entspannung mehr mit sich, viel mehr drückte sie auf Ellas Brust. Die Wolke über ihr wechselte gerade das Sternbild, welches sie verdeckte, und verformte sich zu einer Figur, die weder vom Schlossgarten aus, noch von Katurah zu erkennen war. Dementsprechend konnte sie diese Formation nicht deuten.
„Warum-...Warum fragst du?"
Irgendwo um sie herum begannen Chöre von Grillen zu zirpen, die Sonne schien nur noch in ihren letzten Zügen.
„Naja, du wolltest wissen, was die Seher gesehen haben, was ihnen den Verstand geraubt hat. Ich dachte, wenn du vielleicht ein bisschen Erfahrung hättest...Ich weiß, dass ich mich dagegen gesträubt habe es dir zu zeigen aber ehrlich gesagt ging es mir dabei nicht um möglicherweise auftretenden Kopfschmerz oder Schwindel. Klar kann das ein unschöner Nebeneffekt sein, aber es ist nicht die Norm."
Das Gras neben Ella raschelte sacht, Kira setzte sich auf. Sie tat es ihr gleich und in dem Moment, als ihre Augen sich trafen, erlosch der letzte Sonnenstrahl am Horizont. Die nun im Schutze der Nacht stark schimmernden Sterne und Planeten erhaschten nur selten einen Moment im Rampenlicht, wenn sich durch den Wind kurzzeitig eine Lücke zwischen den dicken Wolken auftat. Der Augenblick ging dadurch nicht verloren, ausnahmsweise könnte Ella sich für dieses Spiel am Firmament gerade nicht weniger interessieren.
„Warum dann?", fragte sie vorsichtig, sich vor der Antwort fürchtend.
„Weil ich als Einzige nicht...nicht irre geworden bin. Ich weiß nicht warum, aber es ist so und wenn ein Spiegel die Vision eines Sehers liest, dann wiederholt sich diese Vision auch vor den Augen dieses Sehers. Was auch immer ich getan habe, um ich selbst bleiben zu können... Was, wenn es beim zweiten Mal nicht funktioniert? Was, wenn ich auf dich losgehe? Dann könnte alles, was du dir hier aufgebaut hast, mit einer Handbewegung in Flammen aufgehen. Ich will nicht der Grund dafür sein. Sollte es tatsächlich eine Rettung für die Könige geben, dann würde ich es mir niemals verzeihen-..."
Weiter kam sie nicht, denn Hufgetrappel schnitt die Worte in der Luft entzwei.

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Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...