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„Was denkst du hat der Kerl gemeint? Ich habe zu danken. Als schuldet er uns etwas. Hast du draußen auf der Wiese noch schnell ein Leben gerettet, nachdem ich weg war? Ich hab es auch nötig, ein paar Lorbeeren zu kassieren."
Korrekt zitiert. Ella nahm den ersten Löffel von dem Gulasch und genoss vorerst ausschließlich das Aroma. Es duftete wundervoll.
„Houston an Ella?"
„Mh. Erde an-..."
„Jetzt sag schon. Moment, du kennst das Buch auch? Das mit dem ersten Wesen auf irgendeinem Stern, der von unserer Welt aus nicht einmal zu sehen ist? War es nicht auch eine Seherin?", fragte Kira von Stolz gepackt und nahm den ersten Bissen. Ella war sich nicht sicher, ob sie den Kopf schütteln oder nicken sollte, also legte sie den Löffel zurück auf den Tellerrand und begann zu erklären.
„Ich habe es in der Bibliothek des schwarzen Schlosses gelesen", genauer gesagt hat sie es sich vorlesen lassen aber referierte dazu immer als hätte sie das ohne Fremdeinwirkung vollbracht, „und im Buch wird tatsächlich von einem Seher als erster Himmelsreisender geschrieben. Jedoch ist das falsch. In einer Randnotiz der Originalfassung hat jemand vermerkt, die wahre Spezies sei geheim gehalten und irgendwann vergessen wurden. Der Seher war im Endeffekt nur ein Wunschtraum vieler. Letzten Endes ist das Jacke wie Hose, immerhin ist die Geschichte von Anfang bis Ende hin frei erfunden. Ich wollte nur anmerken, dass die Zitate ‚Houston, wir haben ein Problem' und ‚Erde an Tillo' heißen. Tillo als der Protagonist. Und um auf die erste Frage zurückzukommen, ich weiß nicht, warum der Mensch sich bei mir bedankt hat."
Die nächsten Momente die Kira benötigte, um das Gesagte zu verarbeiten, nutzte Ella und machte sich endlich über das wohlverdiente Essen her. Viel Zeit wollte sie sich dabei nicht lassen, denn die Show würde bald ins Rollen kommen. Ein paar der anderen schoben ihre Teller, noch zur Hälfte gefüllt, beiseite und standen bereits wieder von den Plätzen auf. Jeder nahm sich auf dem Weg nach draußen aus einer Schale mit Früchten ein Exempel mit und sobald nur noch die Kinder und Sierra zusammensaßen, die keine Anstalten machten zu gehen, stürzten sich die beiden Menschen auf das Geschirr und räumten alles sorgfältig beiseite.
Sich einen weiteren Löffel in den Mund schiebend fiel Ellas Blick auf den eigenen Teller. Auch sie hatte die Hälfte verputzt und bekam nun Zweifel, ob es eine Art Brauch sei, den Rest stehen zu lassen. Gegen irgendwelche höflichen Gepflogenheiten zu verstoßen war das letzte was sie wollte. Auf der anderen Seite konnte das bisschen Gulasch ihren Hunger bis jetzt nicht besänftigen, ihr Magen brummte.
„Du ftierft. Ift waf?"
Kira hatte den Mund randvoll, während sie die letzten Kleckse der Soße vom Teller kratzte und dabei nur mit Mühe und Not einmal zu ihrer Freundin aufsah. Bei dem Anblick schüttelte Ella nur den Kopf und aß weiter. Würden sie wieder ins Fettnäpfchen treten, dann wenigstens gemeinsam.
Bald schon trat Kendric an ihren Tisch heran und nahm neben Ella Platz. Zum ersten Mal, seit sie einander kannten, hatte er die Haare offen. Ella hat mittlerweile völlig vergessen, dass er seine braunen Haare immer mit einem kleinen Pferdeschwanz zurückgebunden trug. Denn durch seine Größe und die erst nach hinten länger werdende Frisur, lag dieser Teil für sie immer verborgen. Nun, besonders lang waren sie nicht aber dennoch ausreichend, um sie zurückbinden zu können. Der längste Teil reichte bis knapp unter den Nacken und stand dezent wild ab. Die kurzen Strähnen vorn fielen unverändert. Offenbar trug Kendric sie nicht oft so. Kira pfiff neckisch, aber er blendete sie gekonnt aus.
„Ihr seid fertig, wie ich sehe. Verano sagt, wir sollen uns zu der Tränke begeben, welche bei unserer Ankunft der erste Rastpunkt war. Und eure Pferde werden die Nacht über auf eine Koppel gesperrt, nicht in den Stall. Armer Kaegan."
„Er hat Asherahs Buch verteidigt", warf Ella enttäuscht ein und ließ ihren Löffel klirrend auf den Teller fallen, „und wird dafür bestraft. Das ist nicht fair."
Und dennoch, er wird es überstehen. Immerhin war er nicht nur irgendein Pferd. Beide Augenpaare richteten sich auf Kendric, der den Anschein erweckte, etwas sagen zu wollen aber die Worte nicht in die gewünschte Formulierung gesetzt zu bekommen. Einmal ließ er den Blick über den Raum schweifen, dann seufzte er.
„Es ist wirklich nicht fair, nein. Aber ich muss mir die Frage erlauben, Kaegan verhielt sich die letzte Zeit über äußerst ungewöhnlich. Ich kannte ihn über viele Jahre, jedoch habe ich ihn nie derart...unvollständig erlebt. Als hätte er einen Teil seines Charakters verloren."
Kendric wusste über die Auseinandersetzung Ellas mit Asherah am Grenzgarten Bescheid, auch über die Trennung, warum also stellte er diese Frage? Dass all der Nebel um Hufe, Mähne und Schweif des Rappen fehlte, fand nie über das erste Mal hinaus Erwähnung und über dessen gelegentliche Blackouts hatten sie alle schweigend hinweggesehen. Natürlich machte Ella sich Sorgen aber bei den vielen momentanen Problem wurde dieses in den Hintergrund gedrängt.
„Und...welche Frage erlaubst du dir?", fragte sie zögerlich. In Kaegans Abwesenheit darüber zu debattieren fühlte sich falsch an. Aber er gab bei direkter Konfrontation immer nur schwammige Antworten, wenn überhaupt.
„Ich frage mich, ob diese Verhaltensänderungen zunehmen. Wird er wilder oder reagiert er auf Fragen manchmal gar nicht mehr mit Worten, sondern eher mit Körpersprache? Was ich sagen will, beginnt er sich wie ein echtes Tier zu benehmen?"
Niemand befand sich in der Lage vorauszusagen, was mit Kaegan passieren wird. Zum ersten Mal in der bekannten Geschichte trennte König Asherah den Bund zu einem von ihm geschaffenen Geschöpf, ohne es dabei zu zerstören. Wenn ebenjenes Geschöpf selbst nicht wusste, wie sich das auf seinen Körper und Geist auswirkte, dann wohl nur einzig und allein der König. Die letzte Person, die sie danach fragen konnten.
Nun da Kendric es ansprach, konnte Ella es nicht leugnen. Sie kannte Kaegan als ruhig, stattlich und vernünftig. Seit Neustem sprach er weniger gehoben und generell seltener, spielte mit Nina, sorgte für Ärger und verlor kontinuierlich an Aufmerksamkeit. Diese Tatsachen machten ihr Angst, wahrscheinlich hat sie sie deshalb verdrängt. Glücklicherweise entnahm Kendric sich die Antwort aus dem Schatten auf ihren Augen und nickte. Ihm konnte das nicht weniger schwer im Magen liegen.
„Ich verstehe. Mach dir keine Sorgen, das kann verschiedene Ursachen haben. Vermute ich. Hoffe ich. Aber wir müssen uns jetzt sputen, kommt."

„Ich bin so gespannt. Immerhin müssen die Hyny ja echt was auf dem Kasten haben, wenn selbst diese Kameradenschweine sie mit, wie hieß es, wehenden Fahnen empfangen. Oder sie überhaupt empfangen."
Kira balancierte auf einer abgenutzten Bordsteinkante, mit beiden Armen zur Seite ausgestreckt und Ella daneben, um sie im Notfall stabilisieren zu können. Ihre violetten Haare wurden wegen des Windes ziemlich durcheinandergebracht und fielen ihr wild auf die Schultern. Gelegentlich musste sie sich ein einzelnes Haar beim Reden aus dem Mund ziehen.
„Was mich interessiert", sekundierte Ella, „ist, wie Lupic diese Sache kommandieren wird. Jetzt wird er oder sie ja kaum ums Sprechen herumkommen."
„Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, Lupic ist männlich."
„Ich hätte auf weiblich getippt.", brachte sich auch Kendric ein und stupste die Seherin auf der einen Seite an, sodass sie das Gleichgewicht verlor und von dem Bordstein springen musste. Sie ließ sich davon nicht stören. Der Wind drehte sich und brachte in Abständen eine warme Brise mit sich. Die genügte bedauerlicher Weise nicht, um von der sie umgebenden Kälte abzulenken.
Dem sollte erfreulicherweise entgegengewirkt werden, denn als sie um die letzte Ecke bogen, brannte hinter der massiven Tränke ein großes Lagerfeuer. Dahinter wurden zwei der Planwagen positioniert, auf denen die Hyny verteilt saßen, alle in neuen Gewändern. Davor schoben Menschen reihenweise Bänke, Stühle, Sitzkissen und Decken zusammen und machten es sich bequem. Die hinteren Reihen bekamen noch extra Decken, weil die Wärme des Feuers nicht so weit hinausreichte, während die vorn Sitzenden die Hitze mit möglichst wenig Bekleidung genossen. Kefhir saß zentral auf der inneren Bankkante einer der Planwagen, auf seinem Schoß Evva, die ihm freudestrahlend einen winzigen Zopf in die Haare zu flechten versuchte. Ein aussichtsloses Unterfangen, vermutlich nur zum Zeitvertreib. Sie trug ein bezauberndes Kleid, welches in Orange begann und zu ihren Füßen transparenter und heller wurde. Kefhir hingegen war oberkörperfrei, seine Hose schwarz mit einem orangen Gürtel. Als er Kendric und die Mädchenbemerkte, winkte er sie lächelnd zu sich. Da aber Evva gerade das Zentrum seiner Aufmerksamkeit sein wollte, schickte er Verano zu ihnen.
Der Hirte war ähnlich wie Kefhir gekleidet, nur trug er eine Pumphose, die an den Seiten offen war und an den Knöcheln mit silbernen Ringen befestigt. Sie passten zu den unzähligen Accessoires, die Ella immer wieder an König Nishah erinnerten. Silberne Armreifen, Ohrringe, Oberarmreifen und das Zungenpiercing. Sogar der Undercut stach deutlicher heraus. Wie konnte er sich in der kurzen Zeit sowohl umziehen als auch rasieren?
Als sie einander erreichten, senkte Verano direkt die Stimme, wodurch er von den aufgeregt durcheinanderredenden Menschen nicht vernommen wurde.
„Wir können euch nicht zwischen den Menschen platzieren, sie sollen immerhin denken ihr wärt ein Teil dieses Ganzen. Also kommt ihr mit zu uns und bleibt einfach unauffällig sitzen, wenn der Rest sich erhebt. Es wird nicht auffallen. Kostüme stellen wir für euch bis zur nächsten Show fertig."
Das Lagerfeuer knackte und aus der Tränke begann mehr und mehr Wasserdampf emporzusteigen. 

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt