Die Schneiderin nickte mit einer Nadel zwischen den Zähnen und beiden Händen daran, ein paar seidene Bändchen auszumessen und zu verknoten, von denen bereits ungefähr ein Dutzend an einem dunklen Hut auf einer anderen Modepuppe hingen. So bald wie möglich ließ sie diese Arbeit ruhen und schob einen großen Karton unter dem Tisch hervor, der ein Paar weitere Accessoires und Zusätze darbot. Die dünnen Strumpfhosen lehnte sie Thanees' Empfehlung folgend dankend ab, die weißen Opernhandschuhe legte sie auf den Vielleicht-Stapel.
Es folgten Ohrringattrappen mit eingefassten Diamanten, da Ella zwar keine Ohrlöcher besaß, Ohrringe aber sehr mochte. Zudem eine ganz zarte Silberkette mit schwarzen Katzenaugen und viele verschiedene, einzelne Edelsteine, die für gewöhnlich in den höheren Schichten oft lose im Gesicht auf oder unter der Haut in Form von kleinen Mustern befestigt wurden. Ein sehr fragwürdiges Schönheitsideal.
Während Ella die Prunkstücke bewunderte und zu guter Letzt die Schuhe aus schwarzem Marmor mit weichen Sohlen und kleinen Absätzen bestaunte, vernahm sie am Rande eine sich anbahnende Diskussion zwischen König Nishah und seiner Schneiderin, die doch bitte bei der Arbeit weniger Dekolleté präsentieren sollte. Daraufhin fragte sie ihn, ob er homosexuell sei und fing an einige Merkmale aufzulisten, die ihr im Laufe der Zeit bei ihm aufgefallen sind und die sehr für Homosexualität sprachen. Dazu versicherte sie ihm immer wieder, dass sie jede sexuelle Orientierung wertzuschätzen wusste und respektierte. Woraufhin er erwiderte, dass auch heterosexuelle Männer Prunk und Mode mögen, mit überkreuzten Beinen auf dem Thron sitzen und derartig freizügige Anblicke nicht dulden können oder wollen. Und außerdem wäre dies völlig irrelevant für die Debatte. Nun fragte Thanee wiederum, ob sie das Thema der Debatte dann wechseln wollen, doch der Weißhaarige gab auf und hockte sich ein wenig überfordert und teilweise verwirrt neben Ella und die Kiste.
„Gott steh mir bei.", formte er lautlos die Worte mit den Lippen, nicht wissend, dass Ella ihn dabei beobachtete. Ihre lustige Vorstellung davon, wie er und seine Schneiderin wohl miteinander umgingen, hatten ihr nicht zu wenig versprochen. Wahrscheinlich war das der Grund, aus dem Thanee auch nach vielen Jahren Dienst am Schloss noch immer wie ein Paradiesvogel herumstolzierte. Selbst Nishah war machtlos. Dabei gab er nachweislich sein Bestes.
„Na komm, wir legen dir die Klunkerchen an, betrachten das Endbild und wenn du wunschlos glücklich bist dann lasse ich Kaegan rufen und ihr reitet zurück. Kibah und ich begleiten euch, damit ihr auch nachweislich heil ankommt. Ich muss eh mit meinem Bruder sprechen. Über diesen Vorfall. Entschuldige meine Ernsthaftigkeit von vorhin, du bist noch zu jung, als dass ich dich damit hätte konfrontieren dürfen."
Ohne zu Nishah aufzusehen hörte sie zu und fühlte sich umso schuldiger, je mehr er ihr die Schuld absprach. Seine Sorge wusste Ella sehr zu schätzen, es fühlte sich so gut an zu wissen, dass sie nicht mehr allein sein musste mit solchen Problemen. Doch während sie so gedankenverloren Lobeshymnen sang, verpasste sie es völlig, auf Nishahs Pardon etwas zu erwidern. Dieser beklagte sich zum Glück nicht. Stattdessen begann er, ihr die Ohrringe anzuklippsen, während Ella die außergewöhnlichen Schuhe anzog. Nishahs Vorsicht und Zärtlichkeit spiegelte Asherahs, wenn auch nicht in ganzer Linie, da seine Finger, wenn nicht behandschuht, ziemlich rau sein konnten. Der Grund dafür lag noch im Verborgenen.
Dieses ganze Prozedere dauerte noch einmal eine Viertelstunde aber dann war alles endlich fertig und Ella strahlte gleich dem schönsten Stern am Himmel bei Vollmond, laut Nishahs Aussage.
„Ich hätte noch vor ein paar Monaten niemals gedacht, dass ich in meinem Leben einmal so etwas Kostbares auch nur zu Gesicht bekommen würde. Und jetzt sehe ich aus wie eine Prinzessin. Ich glaube das ehrlich gesagt immer noch nicht... Was ist, wenn das alles nur ein Traum ist? Und wenn ich morgen aufwache, wieder zwischen Müll, toten Fischen und Pfützen aus Abwasser...was mache ich dann?"
Ihr Leben auf der Straße zog vor ihrem inneren Auge vorbei, während sie mit der Fingerspitze die schwarze Baumwolle entlangfuhr. Ihre Hand begann zu zittern. Nishah hob ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger an und legte dann ihre beiden kleinen Hände in seine.
„Was dann? Na, dann werden mein Bruder und ich jede Nacht in dieser Traumwelt auf dich warten. Und während du die Tage auf der Straße verbringst, kommst du nachts zu uns, wir nehmen dich mit auf Reisen, schenken dir die schönsten Kleider, lassen dich exotische, kulinarische Köstlichkeiten probieren, ...schubsten Thanee in einen Pool aus Makeup Entferner und lassen es wie einen Unfall aussehen, und vieles mehr."
Ella lachte und der König schmunzelte zufrieden. Er hatte recht. Diese Sorge von ihr war nur ein plötzliches Hirngespinst und völlig unbegründet. Sie wollte diese Zeit genießen, egal wie lange es anhalten mochte.
„Ich bin wunschlos glücklich, vielen Dank für alles.", sagte sie, traute sich aber diesmal nicht Nishah zu umarmen, denn als sie dazu ansetzte, verspürte sie ein seltsames Déjà-vu und hielt sich zurück. Ihr Gegenüber nickte befriedigt und erhob sich. In der Zeit, in der er nochmal mit Thanee sprach, wechselte Ella wieder zu ihrer alten Kleidung und legte alles sorgfältig zusammen. Das Kleid hängte sie zurück an die Puppe. Die kleine Fee, die sich bereits zu Beginn der ganzen Geschichte am Fenster niedergelassen hatte und das Geschehen mit Diskretion behandelte, wurde von dem König angewiesen, Kaegan zu holen und eine weitere Dienerin nach Kibah auszusenden.
„Dann halten wir dich nicht länger auf Trapp, Thanee. Es ist ganz schön spät. Ich wünsche dir eine angenehme Nacht. Und die schriftliche Entschuldigung reiche ich dir...in ein paar Tagen nach. Wer hätte auch ahnen können, dass das ernst gemeint war?"
Den letzten Satz fügte er nur leise und von ihr abgewandt hinzu, bevor er Ella endgültig herausgeleitete.Leise seufzen fuhr er sich mit der Handfläche den Hals entlang, dann lächelte er der Kleinen von der Seite zu.
„Nun, dass war...interessant, nicht? Aber gut, lassen wir das ruhen. Um dir ein bisschen Klarheit zu verschaffen, bezüglich deines Traumes. Ich weiß, dass du dir viele Gedanken machst und dass du Angst hast. Und dass das, was im Garten passiert ist, unglaublich schockierend gewesen sein musste. Ich kann dir unmöglich Vorwürfe für irgendetwas machen. Solche Angriffe sollte es in dieser Welt eigentlich nicht geben, nicht unter unserer beider Kronen. Gefahrenprävention ist niemals hundertprozentig. Nicht einmal hier. Aber ein Kind...", er unterbrach sich selbst und zog aus dem Nichts das Stilett wieder hervor. Grüblerisch fuhr er während des Gehens mit dem Daumen über die Rillen und stieß die Luft aus, die er seit einer kurzen Zeit angehalten hatte.
„Woher dachtest du die Frau zu kennen? Ich konnte es nicht sehen aber du hast es Kaegan erzählt. Verzeih, dass ich ohne Einwilligung nachgesehen habe, ich war ein wenig durch den Wind. Dieses Stilett ist ein Meisterwerk, unglaublich kostspielig und schwer zu erwerben. Ich wage anzuzweifeln, dass diese Frau mit ihrer Statur es selbst geschmiedet hat. Sie sah auch nicht aus wie ein Drache oder eine Assassine."
„Wie kannst du mir das alles erzählen?", fragte Ella nun doch überrascht. Denn Nishah sollte ohne Asherah nicht in der Lage sein, das Gesehene zu offenbaren. Doch er lächelte nur und schüttelte den Kopf.
„Das ist ein gutes Zeichen, das bedeutet, dass nur du zuhörst und uns keiner belauscht. Denn du erinnerst dich selbst an jedes Detail und ich erzähle es niemandem, der es nicht selbst miterlebte. Du hast es erlebt und erinnerst dich genauso detailliert wie ich es vor Augen habe. Das ist mir nur für wenige Minuten bis Stunden möglich. Dann werden filigrane Einzelheiten unklar und ich werde in Zwangsschweigen gehüllt. Es ist mein Vorteil gegenüber den Seherin, welche rein gar nichts ohne ihr Gegenstück offenbaren können. Denn sie sehen nur die Zukunft. Das, was noch nicht geschehen ist. Also ist es unmöglich, dass sich die Person daran erinnert. Gewieft, nicht? Ein kleines Hintertürchen nur für mich."
Tatsache, das war ein großer Vorteil des Königs. Dazu noch einer, der in keinem Buch zu finden war. Seine stolze Aura leuchtete wie die Sonne.Vor der Tür wartete Kaegan bereits und wurde von ein paar Dienern verwöhnt, die ihm Futter und Wasser anboten. Er nahm alles dankend an, auch wenn Ella sich ziemlich sicher war, dass er das beides überhaupt nicht brauchte. Immerhin bestand er zu neunundneunzig oder mehr Prozent aus purem Nebel. Als Ella ihn begrüßen wollte, schlang Nishah rasch die Arme um sie und hob sie zur Seite. Nur eine knappe Sekunde bevor auch schon Kibah an den beiden vorbeidonnerte und freudig auf das Pferd zusprang. Beinahe hätte sie Ella zu Brei verarbeitet.
„Hm, ich empfand ihre stürmische Art immer als sehr charmant aber langsam kommen mir Zweifel. Das war gefährlich..."
Schmunzelnd sah sie zu Nishah auf. Offenbar stellte sich für ihn gerade die Welt auf den Kopf, auch wenn das schon ein wenig überfällig war. Sobald ihre Füße wieder den Boden berührten, überbrückten die beiden die letzten Meter zu ihren tierischen Begleitern, die begonnen hatten, ein wenig herumzutollen. Kaegan wirkte ausnahmsweise besonders kindlich und verspielt. Er tänzelte und warf die Mähne zur Seite, während Kibah ihm gegenüber auf und ab sprang und sich herumrollte.
„Wie süß ihr zusammen seid!"
Vorsichtig strich sie ihm über die Stirn und er beugte den Kopf folgsam herunter. Hat er etwa die ganze Zeit hier verbracht? Er musste sich wirklich Sorgen machen, denn Ella meisterte diesen Weg so oft allein und es gab keine Vereinbarung, dass Kaegan sie auch zurück begleitete. Aber hier stand er. Wie konnte sie nur einst vor diesem loyalen, liebevollen Wesen Angst gehabt haben?
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Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...