Ihre Gedanken überschlugen sich. Doch der erwartete Schmerz trat nicht ein. Als sie nach wenigen, abgehackten Atemzügen einen Blick zu riskieren wagte, stand der Attentäter direkt vor ihr. Zwischen die Klinge und ihre Brust passte keine Hand mehr und doch stagnierte beides in seiner Entfernung voneinander wie festgefroren. Im Blick des Fremden lag keine Zuversicht mehr, sondern pure Überraschung. Und bald schon blanker Horror, denn Asherah hatte die Klinge gestoppt. Mit der bloßen Hand hielt er die Schwertschneide fest und riss sie dem Mann kraftvoll aus den Händen. Was als mäßiges Tröpfeln begann, entwickelte sich rasch zu seinem beunruhigend geschwinden Blutfluss, welcher vor den feinen Schuhen des Königs rasant eine dunkelrote Pfütze füllte. Und der Anspannung seines Kiefers nach zu urteilen erlitt er große Schmerzen.
Viel Aufmerksamkeit schenkte er dem tiefen Schnitt in seiner Handfläche nicht, stattdessen drehte er die Hand mit dem Fangschwert um einhundertachtzig Grad, sodass der Griff zu Ella zeigte und sie es an sich nehmen konnte. Sie wollte das Ding bei allen guten Göttern nicht aber verstand den Hint durchaus, Selbstverteidigung. Denn wer konnte ahnen was der Abend noch bringt. Zitternd umgriff sie den Grip der Waffe, woraufhin Asherah losließ. Beinahe künstlerisch liefen seine einzelne Blutstropfen an der Schneide herunter und malten ihre grotesken Verzierungen auf dem Silber. Das Mädchen würde sich am liebsten übergeben. Aber dafür hatte sie später mehr als genug Zeit, wenn sie lebend hier heraus kam. Also festigte sie den Griff am Schwert und hielt es unbeholfen vor sich. Wenigstens für den Moment musste sie sich zum Glück nicht selbst verteidigen, Asherah war da. Wie auch immer er es geschafft hat vor dem Seher bei ihr zu sein aber er hat es geschafft und ihr damit das Leben gerettet.
Seine Augen nahmen auf einmal einen tiefen, pechschwarzen Farbton an und seine Gesichtszüge wurden hart. Bedrohlich. Von dem Schwung des Schwertverlustes wurde der Seher gegen die Brüstung des Balkons geschleudert und verfolgte von dort aus das Geschehen um Asherah genauso verängstigt wie Ella. Mit zusammengebissenen Zähnen und einem aggressiven, bösen Blick stellte der König sich aufrecht, hob das Kinn und sah auf den Fremden herab. Und doch bewegte er sich entgegen jeder Erwartung nicht vom Fleck. Er war ohne Frage bereit, sich für den blutigen Schnitt in seiner Hand und den versuchten Mord an der neuen Prinzessin zu revanchieren, das war unübersehbar, aber etwas hielt ihn zurück. Und nach kurzer Verwunderung traf Ella die Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube. Asherah ließ dem Attentäter die Wahl...eine grausame Wahl. Und dieser machte von ihr Gebrauch. Die verlorene Schlacht akzeptierend packte der Seher mit weiß hervortretenden Fingerknöcheln rücklinks das Geländer, sah Ella ein letztes Mal mit diesem nichtssagenden Blick an und stürzte sich ohne weiteres Zögern von der Anhöhe in den Tod. Erschüttert schlug sie die Hände über dem Mund zusammen um ihren Schrei zu ersticken aber das funktionierte nur sehr dürftig. Nishah kam ihr zuvor und sowohl das Kind als auch der König fuhren schlagartig herum. Durch seine weiße Hose hindurch bohrte sich ein viertes Stilett bis zum Anschlag in seinen Oberschenkel und tränkte den gesamten Stoff von dort an abwärts in Blut. Mit rasanter Geschwindigkeit. Asherah fluchte frustriert, zum ersten Mal hörte Ella solche Ausdrücke aus seinem Mund, und es schien als spreche er eine Fremdsprache.
„Ich kann euch nicht beide beschützen und er kann nicht weg. Ella, nach drinnen, sofort! Kaegan wird kommen und dich holen! Reite den Weg den wir gekommen sind, zurück zu meinem Schloss und behalte Kaegan immer an deiner Seite. Verschanzt euch in meinem Schlafsaal! Wenn die Luft rein ist werden wir kommen, bis dahin lässt du niemanden rein oder raus!"
Sie gehorchte. Die Wachen an ihrer Seite rangen mit der Überforderung und konnten unmöglich lokalisieren, woher die Stiletts geflogen kamen. Die zwei an Nishahs Seite konnten nichts tun, außer ihn zu stützen und mit ihren Körpern zu decken. Er brauchte seinen Bruder. Also wandte Ella sich in die befohlene Richtung ab und rannte. Sie rannte so schnell wie es das überraschend leichte aber gefährlich scharfe Fangschwert in ihrer Hand zuließ und stieß zur Marmortreppe vor. Dort hörte sie auch schon wie angekündigt das Donnern der kräftigen Hufe auf dem glatten Stein des Hauptsaales. Kaegan schoss wie ein Blitz durch die weit offen stehenden Flügeltüren hinein und wich dabei den letzten noch flüchtenden Gästen der Feierlichkeit aus.
„Kaegan!"
Mit den Marmorschuhen auf der blöden teppichlosen Treppe wagte Ella es nicht, nach unten zu ihrem Begleiter zu rennen. Also sprintete der Rappe nach oben. Er bekam ebenfalls Probleme, hatte aber im Gegensatz zu ihr keine Knochen die brechen können. Als nur noch wenige Stufen zwischen ihnen lagen, nahm sie Anlauf und sprang auf seinen Rücken. Ein Blick in Richtung des Balkons gab nicht viel her, sie befand sich schon außer Sichtweite. Notdürftig befestigte sie ihr Schwert in einer Schlaufe des noch immer auf Kaegans Rücken befestigten Sattels, vergrub die Hände in der Mähne des Tieres und sprach ein flüchtiges Gebet, es möge keine weiteren Tote geben.
An den kräftigen Pferdehals gepresst überließ Ella Kaegan die Führung. Sie nannte ihm nur den von Asherah aufgetragenen Weg und gab sich mühe, nicht aus dem Sattel zu rutschen. Und dann weinte sie. Sie hatte Angst, dass ihr jemand auf dem Weg aus dem Hinterhalt heraus ein Stilett oder ein Fangschwert oder weiß der Teufel was für eine andere Waffe in den Körper jagte. Sie hatte Angst um Asherah und Nishah. Sie hatte Angst, dass alles so endete, wie es begann.
Doch sie gerieten in keinen Hinterhalt. Als Kaegan den Friedhof erreichte, dämpfte das Gras seine Hufschläge und es wurde ruhig. Ein kalter Wind empfing sie, als sie sich ungeschickt in den viel zu langen Steigbügeln aufzustellen versuchte. Vor ihnen lag ein kurzer, erdiger Weg und dann erhob sich dort auch schon die Kirchenruine, die Nishah einst so liebte. Es gab keine möglichen Verstecke für weitere Attentäter mehr und Ella wischte sich mit dem Unterarm die Tränen von der Wange. Das Schloss hinter ihnen lag in seiner festlichen Beleuchtung völlig ruhig da, erstreckte seine Kristalle auf den Dächern gen Himmel und schnitt damit in das dunkelblaue Wolkenmeer. Es war zu weit entfernt, um die tragischen Ereignisse preiszugeben, welche sich an seinen Mauern erstreckten. Ein Richtungswechsel stand außerfrage.
„Die Luke ist noch offen.", sagte Kaegan und drosselte erst wenige Meter vor dem Loch im Boden sein Tempo. Anstelle nacheinander mit Vorsicht hinunterzusteigen, setzte das Schattenpferd direkt vor dem Abgrund ab und ließ sich mitsamt Reiter hinunterfallen. Erschrocken presste das Mädchen ihm die Hacken in die Flanken und krallte sich noch einmal fester, doch Kaegan wusste was er tat. Der Aufschlag erfolgte nicht schmerzfrei aber der Sprint ging sofort weiter und so vermied der beinahe fliegende Übergang den erwarteten Schmerz. Die Fackel direkt am Eingang ist bereits erloschen, sie tauchten in tiefste Dunkelheit ein. Nun summierten sich Ellas Ängste auf.
Kaegan weiß was er tut, wiederholte sie in Gedanken unentwegt, er kann in der Abwesenheit von Licht sehen, Asherah hat das gesagt. Ich vertraue ihm.
„Bitte bring mich nach Hause.", flüsterte, nein wimmerte das Kind in die Mähne hinein und bekam durch einen ungeheuren Adrenalinschub kaum noch Luft. Kaegan antwortete nicht. Also versuchte Ella sich zu beruhigen und klare Gedanken zu fassen, indem sie sich zurückerinnert, welcher Weg nun vor ihnen beiden lag. Vorsichtig hob sie den Kopf ein Stückchen, nicht zu hoch wegen des engen und tiefen Mauerwerks, und blickte zwischen den angewinkelten Pferdeohren hindurch nach vorn. Sie erahnte diese schemenhaft. Recht schnell bekam sie dahingehend auch Bestätigung, denn in gar nicht so weiter Ferne flackerte ein Licht. Das musste der Schein der noch immer nicht heruntergebrannten Fackel sein, die Nishah zuvor dort hatte stecken lassen. Das bedeutete-...Oh nein. Auf einmal schoss es ihr blank.
„Kaegan! Die zweite Etage endet dort, da geht es abwärts!"
Doch bei der aktuellen Geschwindigkeit konnte von einem Stopp nicht mehr die Rede sein. Stattdessen behielt der Rappe das Tempo bei, preschte bis an die Kante voran und sprang. Mit einem riesigen Satz. Panisch riss Ella an den Zügeln, ohne Asherah konnten sie keine Treppen heraufbeschwören, keine Unterstützung für die sechs Meter Anhöhe. Sie konnte nur beten. Die wenigen Sekunden Schwerelosigkeit endeten abrupt. Unten angekommen federte Kaegan mit einem starken Schnauben und enormem Kraftaufwand die Landung ab aber Ella fehlte die Kraft, um sich im Sattel zu halten. Sie stürzte vornüber, verhedderte sich mit einem Arm in den Zügeln und kugelte sich beinahe die Schulter aus, als sie auf dem festen Boden aufschlug. Der Schmerz stach unerträglich aber die Finger funktionierten noch. Das Pferd rammte sofort die Hufe in den Grund und bremste ab, dass schon fast die Funken sprühten. Denn das Mädchen lief Gefahr durch das Zaumzeug unter die Hufe gezogen zu werden, bereits ein Tritt konnte immensen Schaden anrichten. Die Rosenverzierungen ihres Kleides rissen allesamt ab, ihre Haut brannte von den Aufschürfungen und ein lautes Dröhnen in ihrem Kopf versicherte Ella, dass das alles definitiv kein Traum sein konnte. Es war harte Realität. Und diese Realität entwickelte sich noch immer in eine gefährliche Richtung voran. Sie mussten weiter. Anstelle die Hand aus dem ledernen Zügelband zu befreien, umgriff sie es fest und ließ sich von Kaegan wieder auf die schwach werdenden Beine ziehen.
„Ella, du-..."
„Wir müssen weiter, zum schwarzen Schloss... Asherahs Schlafgemach.", keuchte sie. Ein zweites Mal gelang ihr der Aufstieg auf den Pferderücken nicht ohne Hilfe. Mit neu gewonnenem Respekt vor der Ausstattung Kaegans ging Ella wieder dazu über, sich an seiner Mähne festzuhalten und sich von dem Zaumzeug großzügig fernzuhalten. Dazu duckte sie sich vorsichtshalber, senkte damit ihren Schwerpunkt und minimierte jeglichen Widerstand.

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Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...