Karakis war ein sehr rustikales Städtchen. Auf den ersten Blick wirkte es riesig, besaß aber nur eine kleine Anzahl Häuser, die man an den Händen abzählen konnte. Dafür jedoch keines mit weniger als zehn Stockwerken. Die Größe der Stadt rührt von den exorbitanten Abständen, in denen die Gebäude zueinander gebaut wurden. Die Freiflächen beherbergten herdenweise Nutztiere aller Gattungen. Veranos Vilmlämmer beäugten die Verwandten kritisch. Vor ihnen lag eine massive Tränke, eingelassen in die breite Straße aus Schieferstein. Sie war randgefüllt mit klarem Wasser aber den Grund überzog ein hellgrüner Algenteppich. Ein paar insektenähnliche Tierchen ließen sich auf dieser Wasseroberfläche treiben, gaben dabei eine Art Summen von sich und ließen sich von dem plötzlichen Getümmel nicht stören. Nach dieser Bergbesteigung, die sich für Ella in die Länge zog wie Zähmasse, kam ihr eine Verschnaufpause gerade recht. Auch wenn diese in erster Linie den Vilmlämmern galt. Die sahen nicht weniger geschafft aus.
„Sieh sich das mal einer an. Hier langweilten sich sogar die Blätter an den Bäumen, faszinierend.", verkündete Kira feierlich und ließ die Füße im Wasser Baumeln. Das Vilmlam zu ihrer Rechten schnaubte protestierend und trottete an eine andere Stelle zum Trinken. Kira murmelte ihm ein leises Diva hinterher. An seine Stelle stellte sich Nina, die der abschreckende Umstand nicht weniger kümmern könnte. Nachdem Ella eine Nacht neben der Seherin zugebracht hat, erschien ihr der Protest des Vilmlammes völlig nachvollziehbar.
An dem ersten Kommentar der Seherin war durchaus etwas dran, die Bäume besaßen für diese Jahreszeit auffallend kahle Kronen. Vermutlich durch die Hanglage oder Höhe.
„Nur ein triftiger Grund mehr, um die Hyny mit wehenden Fahnen in Empfang zu nehmen, Mäuschen.", warf Verano ein, der in diesem Moment hinter ihnen vorbeistolzierte wie ein Pfau. Kira drehte verwirrt den Kopf zu dem ungebetenen Gesprächsteilnehmer.
„Kumpel, das hier ist ein privates Gespräch!"
„Sehe ich nicht so."
Und trotzdem wanderte er ungeniert weiter außer Hörweite. Angeführt von einem Räuspern wollte die Seherin fortfahren, Ella kam ihr zuvor.
„Ein privates Gespräch? Du hast nur genörgelt...nicht gerade leise."
„Ich weiß, ich wollte mich nur beschweren. Nach diesem Anstieg bin ich sowas von auf Krawall gebürstet! Aber egal, eine feierliche Willkommenheißung klingt gar nicht so schlecht, nicht? Das könnte mein Ego gerade gut vertragen."
Nur sah es nicht danach aus, als würde das Schicksal ihr die Freude gönnen. Weit und breit war keine Menschenseele in Sicht, dabei schlichen sie sich wahrhaftig nicht gerade an. Die Hufe der Vilmlämmer machten einem Erdbeben Konkurrenz, Finu und Kicka jagten einander und kreischten dabei spielerisch. In den ruhigeren Ecken wurde zum einen Kefhir von Evva wegen dem misslungenen Versöhnungsversuch unter Brüdern getröstet, zum anderen versuchte Kendric mit ähnlich niedrigen Erfolgschancen Verano loszuwerden, der ihm an den Fersen hing.
„Eine knuffige Truppe, oder Ella?"
„Oh Herr im Himmel, in welcher Truppe warst du denn bitte?"
„Du darfst mich Kira nennen, Herr im Himmel ist Oldschool. Und ich bin in derselben wie du, nur brennt mir Lupic mit Blicken keine Löcher in den Rücken. Beeindruckend, wie gelassen du das ignorieren kannst."
Ah, sie hat es also auch mitbekommen, stellte Ella gedanklich fest, dabei schien Lupic momentan das Interesse an ihr verloren zu haben. Ein genauerer Blick über Kaegans Rücken hinweg zeigte auch warum. Dieses unheimliche Wesen war mit voller Konzentration dabei Evva zuzuhören und lächelte sogar jedes Mal flüchtig, wann immer das zierliche Mädchen im Satz kicherte.
„Ob diese Obervierung an meinem Stilett liegt? Was glaubst du?"
„Naja", Kira warf einen kurzen Blick zu Kendric und schüttelte den Kopf, „seine Waffe, das Fangschwert, ist deutlich größer als deine, von der sportlichen Statur ganz zu schweigen, und trotzdem bleibt er von Lupic verschont. Ohnehin mögen ihn alle hier für meinen Geschmack etwas zu schnell und zu sehr. Und was auch immer Verano da macht..."
Dann, überlegte Ella, ist Lupic entweder sexistisch, rassistisch oder hat kein Problem mit ihr per se, sondern mit ihr als Prinzessin. In diesem Fall wären sie sich sogar einig, der Titel lag Ella nicht weniger schwer im Magen.
Sanft drückte Kira ihr eine Hand auf die Schulter, die Berührung ließ neue Wärme durch Ellas Körper fließen. Leider machte ein aufkommender Windstoß diese gleich wieder zunichte. Nachdenklich fuhr sich die Seherin mit der Zungenspitze über die Oberlippe und brummte dabei.
„Es ist nur eine Frage der Zeit, da sind wir auf und davon durch den Nebel. Außerdem habe ich versprochen auf dich aufzupassen. Nicht nur bis zu König Nishahs Grenze sondern bis zum Planeten Leighthyn und zurück, wenn es sein muss. Bis die Sache ein Ende findet. Mir sind diese Leute irgendwie...suspekt, ich halte die Augen offen. Also mach du dir wenigstens keine Sorgen. Dein Ziel ist viel größer als das alles hier, konzentriere dich lieber darauf."
Mit einem tiefen Atemzug nahm Ella die frische Bergluft in sich auf, bevor sie die Hyny genauer unter die Lupe nahm. Mit dem ein oder anderen Zweifel wäre sie unterschwellig klargekommen aber nun erschien diese allumfassende Freundlichkeit und Lupics Misstrauen fast bedrohlich. Hätte Kira lieber geschwiegen.
„Natürlich, ich bin dir auch unendlich dankbar aber ein Erfolgsversprechen würde mich eher beruhigen. Mein Gewissen gaukelt mir vor, jeder Stein vor uns könnte aktuell zum enormen Hindernis werden."
„Ella, ein Erfolgsversprechen von mir rettet keine Leben, erst recht kein Königreich. Ich bin nicht perfekt, keiner ist das. Was ich dir hier garantiere ist meine Unterstützung aber ich weiß selbst, dass mein Bestes vielleicht nicht gut genug ist. Ich möchte dich nicht hintergehen, aber wenn ich dir etwas schwöre, was ich vielleicht nicht halten kann..."
Kiras Worte passten nicht zu dem aufmunternden Lächeln auf ihren Lippen. Sie sorgten dafür, dass Ella nicht wusste, wie sie sich nun fühlen sollte. Die Seherin erkannte die Unsicherheit in ihren Augen und warf ein melodisches „Das wird schon!" hinterher, drückte Ellas Schulter wiederholt und kniete sich dann zurück neben Nina an die Tränke. Kurz darauf erschien Kaegans Kopf über Ellas rechter Schulte. Er hat das Gespräch still verfolgt.
„Eine weise Verschmelzung von Komödie und Tragödie..."
„Dann hast du die Botschaft dahinter verstand?", fragte sie leise, sodass es nur der Rappe verstand.
„Nein, wenn sie Spricht erscheinen mir die Worte wie ein abstraktes Kunstwerk von Rhino Derak. Angeblich lässt er seine Werke allein vom Zufall schaffen und überlässt die Deutung und Interpretation dem Betrachter."Auf einmal klappten die Ohren der Pferde und Vilmlämmer synchron zurück und sie alle hoben die Köpfe. In der Ferne ertönte leiser Donner aus Trommeln, doch die Quelle war unbekannt. Die Berge um sie herum ließen den Sound aus verschiedenen Richtungen widerhallen und bald überschlugen sich die Melodien zu einem ziemlichen Chaos. Das machte Nina so nervös, dass sie begann an Kiras Ärmel zu knabbern und zu zerren. Die Seherin hatte große Mühe, die Stute zu beruhigen. Doch davon abgesehen zeichnete sich auf keiner Miene der Hyny das kleinste Zeichen von Verwirrung ab, im Gegenteil, sie alle fingen an, zusammen einen eigenen Rhythmus zu klatschen, einen schwungvollen und spaßigen.
Nur wenige Sekunden gingen ins Land, da erstarb die Bedrohlichkeit der Trommeln und stattdessen stiegen sie in die freudigen Schläge mit ein. Evva warf begeistert die Arme um Kefhir und sie begannen zu der Musik zu tanzen, schwerelos ließ er sie über den Stein wirbeln. Verano und Sierra pfiffen zum Ansporn. Doch auf Kira, Kendric und Ella wollte dieses Vergnügen just nicht überspringen. Das Trio versuchte erfolglos, den Ursprung dieser immer lauter werdenden Trommeln auszumachen. Kendric stellte sich schützend vor die Mädchen und behielt eine Hand am Griff seines Fangschwertes, was genau genommen nicht seins war.
„Ist das die...uh, feierliche Begrüßung?", erkundigte sich Kira irritiert und wollte den von Nina angesabberten Ärmel an Ella abwischen, die ihre Hand aber rechtzeitig wegschlug, „Autsch. Ja, das klingt viel mehr nach ‚Oh, schön dass ihr da wart und jetzt haut ab'. Alle anderen genießen es, schön für sie, aber wortwörtlich wehende Fahnen hätten gereicht. Am besten in unschuldigem Weiß."
„Das Hissen einer weißen Fahne bedeutet Kapitulation.", klärte Kendric Kira mit gesenkter Stimme auf und ließ vom Grip seiner Waffe ab.
„Umso besser, dann wäre das jetzt unser Hügel."
Auch Ella passte sich dem Beispiel Kendrics an und entspannte die Schultern Stück für Stück.

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Ella - Zwischen Nebel und Hölle
خيال (فانتازيا)In einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...