6.7

21 7 0
                                    

„Es tut mir leid, Kendric, aber wir sind den ganzen Tag auf den Beinen. Ich möchte jetzt nichts lieber tun als schlafen zu gehen. Hab bitte Verständnis."
Er zögerte, ließ sich Zweifel, falls vorhanden, indes nicht anmerken. Stattdessen verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere und winkte eine Barfrau von hinter der Theke zu sich. Auf ihrem Vorbau könnte man ein Kartenhaus stapeln und ohnehin war ihre Figur sehr korpulent, doch strahlte ihr sommersprossiges Gesicht kindliche Naivität und pure Lebenslust aus, was sie auf den ersten Blick ungemein sympathisch machte. Die Schuhe, welche unter dem langen Rock nicht zu erkennen waren, mussten aus Holz sein, denn jeder Schritt hallte hörbar durch das Zimmer. Sie übertönte sogar die beiden Gitarren in der Ecke neben der Tür.
„Kendric, da hast'e dir mit dem Paffen ja alle Zeit der Welt und ne Minute mehr gelassen! 's beste Lied is schon vorbei aber beim nächsten tanzen wir ne Runde, ja?"
„Ist mir recht, Süße, aber vorher musst du dich bitte um unsere beiden Gäste kümmern. Gib ihnen das mittlere Zimmer der ersten Etage, etwas zum Essen und ein paar Wundsalben. Wenn du das erledigt hast und die Mädchen wunschlos glücklich sind, dann tanzen die Ratten auf den Tischen."
Vorfreudig jubelte sie und gab sich selbst ein energisches High Five. Zum Abschied neigte Kendric elegant den Kopf und verschwand ohne weitere Umschweife. Nach der Abfuhr verlor er augenscheinlich jegliches Interesse an den dreien. Doch Miss Superbusen ließ sich davon nicht beirren, im Gegenteil, sie winkte ihm nach und ließ dabei die Brüste wackeln. Sie biederte sich in Ellas Augen an wie ein läufiges Tier. Entweder wusste sie von Kendrics Beziehungsstatut nichts oder es war ihr egal. Ihn selbst hätte es dem Anschein nach nicht weniger stören können.
„Fein, Fein. Immer mir nach, Mädels. Ich muss 'n bisschen überschüssige Energie abtanzen also bringen wir euch fix in trockene Tücher. Was darf ich euch denn zu Essen zubereiten, während ihr's euch im Zimmer bequem macht? In der Küche macht mir keiner was vor, unser Menü's so farbenfroh wie dieser Raum hinter meinen weiblich breiten Schultern zur Blütezeit."
Sie entschieden sich einstimmig für ein Tablett mit fünf verschiedenen Brotsorten und unzähligen Aufstrichen als Snack, und für den Hauptgang zwei große Tassen mit einem nussig würzigen, dickflüssigen Milchgetränk. Es schmeckte unglaublich lecker und wärmte jede Faser ihres Körpers, die es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht von sich aus geschafft hatte. Ein einziger Nachteil überwog allerdings. Das Abendbrot lag derart schwer im Magen, dass sie beide, sobald die Behälter leergeputzt waren, schläfrig in die weichen Wasserbetten fielen und einfach in den Schlaf rutschten. Für ein aufklärendes Gespräch oder eine motivierende Ansage konnte sich keiner mehr aufrappeln, auch die Wundsalben gerieten in Vergessenheit. Ellas Sorgen zerstreute Kira dementsprechend auch nicht, was zur Folge hatte, dass diese sie ruchlos in den nächsten Traum begleiteten.

KRACH! Mit einem betäubenden Knall zerbarst die kolossale Leiche eines uralten Baumes, kaum einhundert Fuß vor Ella. Der Blitz bohrte seinen grellen Schweif exakt durch das hohle Innere der Rinde in den überfluteten Erdboden. Bei der Explosion zischten winzige Projektile, einige gerade mal von der Größe eines Sägespans, pfeifend durch die Luft. Es überlebte den Einschlag nur ein knorriger Ast, genau genommen auch nur ein Teil eines Astes. Dieser wurde herumgeschleudert und durch den starken Wind in Ellas Richtung gelenkt. Vor ihren Füßen rammte ihn die Schwerkraft in den Boden. Auf ihrer Augenhöhe prangte eine tief in die Borke hineingeritzte Gravur, ein verschnörkeltes, markantes N. Und nicht irgendein N, sondern das Signum von König Nishah, das dieser seit er schreiben konnte unter jede seiner Schriften setzte. Als das Mädchen die Prägung mit einer Fingerspitze berührte, verdunkelte der Himmel sich schlagartig und mit unnormalem Tempo. Das Holz zerfiel zu staub. Dahinter kam zum Vorschein, was bis jetzt von Sturm und Ast für Ella verdeckt geblieben lag. Eine überlebensgroße Flutwelle rollte heran und begrub ausnahmslos alles unter sich. Dass sie rannte, realisierte Ella erst, da ein in der Dunkelheit unsichtbarer Stein ihr ein Bein stellte und sie zu Boden warf. Doch jetzt zu stoppen bräche ihr das Genick. Schmerz existierte in ihrer jetzigen Realität nicht, dafür überfluteten die anderen Sinneseindrücke jede Zelle ihres Körpers.
Ellas Körper drückte sich wie von Geisterhand gesteuert wieder zurück auf die Beine und rannte. Sie rannte und rannte, bis der Atem die Brust zu zerreißen drohte und ein Hindernis in Sicht kam, das sich als unmöglich zu überwinden herausstellte. Eine bis in die Wolken hinaufragende und durch diese hindurchbrechende Klippe. Aus dieser sich am Himmel drückenden, dunkelgrauen Wolldecke quoll tosend ein Wasserfall heraus. Aber anstelle auf Ellas Höhe einen See oder Fluss zu bilden, donnerte der Sturz durch ihre Ebene hindurch und fiel unterirdisch weiter, als ständen sie, die Bäume und der sich nähernde Tsunami bloß auf einem Plateau. Plötzlich verschwand die Erde unter ihren Füßen und wurde durch dicken, dunklen Nebel ersetzt. Doch der Nebel hielt Ellas Gewicht mit Bravour, er gab kaum einen Millimeter unter den Füßen nach. Leider bot er der Riesenwelle dieselbe Stabilität, und für das Mädchen gab es nur einen einzigen Fluchtweg in Sicht- und Reichweite. Es gab weder Rechts noch Links und auch kein nach Oben. Die Felswand bestand aus glatt geschliffenem Granit und zog sich nach allen Seiten ins Unendliche.
Ella sprintete nach vorn, auf das Loch im Boden zu, durch welches der Wasserfall fiel. In diesem Moment spaltete ein einzelner Sonnenstrahl die Wolken über ihr und traf auf die goldenen Locken ihres Schopfes. Als sie sprang, blitzte das Gold grell auf und erhellte ihre Umgebung. Der Nebel auf der Strecke, die sie hinter sich gelassen hatte, trieb auseinander. Jetzt wurde endlich erkennbar, was sich unter der Ebene befand. Eine Apokalypse ähnlich der ihren. Auch dort strömten und sprudelten Wassermassen umher, rissen Bäume mit sich und verbreiteten Chaos. Mit zunehmender Tiefe wurde die Steinwand unebener, das Wasser donnerte ganz unten tatsächlich in einen rapide anwachsenden Flusslauf.
Nun verstand Ella, wo sie war. Ihr goldener Schein erleuchtete zwei Wesen am Erdboden, eins auf der Steinwand und eins knapp über der Strömung in einer Einkerbung gefangen. Eins mit weißen und eins mit schwarzen Haaren. Und beide sahen zu ihr auf, kurz bevor sie einander entdeckten.

„Ella..."
Als Ella erwachte war es noch finster. Das Fenster hinter den Vorhängen bot nichts dar, abgesehen von melancholischer Schwärze. Sie musste sich in der Nacht auf den Rücken gedreht und dabei das Kissen von der Matratze geschoben haben. Kira neben ihr lag hingegen quer im Bett. Ihre Beine lagen auf Ella, die Arme hingen von der Bettkannte und es verblieb als Mysterium, was mit der Bettdecke geschehen ist.
„Ella..."
„Mhh."
An den Traum erinnerte Ella sich gut, es konnte kein schlechter gewesen sein. Denn anstelle verschwitzt mit einem Schrei aufzuspringen, hatte das Mädchen durchgeschlafen. Es handelte sich um Kiras ruhiges Gemurmel, das sie weckte. Jedoch kam ihr mehr als Ellas Name auch nicht über die Lippen.
„Ellaaaaa..."
„Man, waaaas?"
„Ella, du redest im Schlaf. Das nervt.", nuschelte sie in das Laken und streckte die Beine, befreite sie von der drückenden Benommenheit nach dem Aufwachen. „Ich war kurz davor, dir eine Socke in den Mund zu stopfen."
„Uh. Eine Saubere?"
„Nein, du sollst ja daraus lernen."
Quietschend zuckte Kira zurück und fiel polternd aus dem Bett, da Ella sie, anstelle zu antworten, ins Bein zwickte. Anstelle sich wieder aufzurappeln, blieb sie auf dem Boden liegen und nach fast einem Dutzend Sekunden hörte Ella von dort ein leises Schnarchen. Großartig, dachte sie, nicht kleinzukriegen. Und was mache ich jetzt, ich bin gar nicht mehr müde. Aber ihr Bein auf meiner Blase hat seine Spuren hinterlassen, wo sich die Toilette befindet, hat diese Frau uns überhaupt nicht gezeigt.
Sie setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Daraufhin sah sie für einen Moment nur verschwommen, erkannte aber durch den Schlitz zwischen den Vorhängen, dass hinter dem Fenster nicht einmal die Planeten am Himmel standen. Als Ella sie beiseiteschob und die Hand auf das Glas legte, glichen die dicken Wolken draußen denen ihres Traumes.
Doch die Wolken dieser Welt sahen immer gleich aus. Lag man direkt darunter und versuchte Wolkenbilder zu deuten, so formte jede Wolke exakt das Sternbild, das sich dahinter in die Sterne geschrieben befand. Das gestaltete das Spiel für kleine Kinder ziemlich langweilig, eignete sich aber zum Lernen und Orientieren. Das Glas unter der Handfläche fühlte sich warm an und die Schwüle im Zimmer bedeutete, dass morgen ein angenehmer Tag werden würde. Hinter Ella lag Kira auf dem Rücken, mit den Gliedmaßen ausgebreitet wie ein Seestern. Sie schlief schon wieder tief und fest. Ella wollte ihr eine Nachricht hinterlassen, damit sie sich nicht wunderte, sollte sie aufwachen und sich allein in dem Zimmer wiederfinden, doch es gab keine Möglichkeiten dafür. Also beeilte sie sich und huschte flink zur Tür hinaus. 

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt