Es leuchtete am Horizont vermehrt kurzzeitig auf. Blitze schlugen in die zu einem unscheinbaren Strich verschmolzene Landschaft und zogen mittlerweile fernen Donner nach. Ella und ihr Begleiter hatten den Garten erreicht und galoppierten über die gleichmäßig wachsende, von Irrlichtern beschienene Wiese. Um in den Norden nach Katurah zu gelangen, mussten sie, um einer potenziellen Sperre einer Stadtgrenze zu entgehen, die freie Hauptstraße nehmen, die am Ende des Gartens entsprang. Wenn Soldaten nach ihnen ausgesandt werden, war zumindest die Nachricht so geschwind wie ein Flüchtender unterwegs. Wo genau Asherah sich momentan aufhielt wusste Kaegan nicht. Also mussten sie aufmerksam bleiben. Der Mann hielt sich angesichts der Situation bedeckt, bis die Wachen das Feuer in seinen Fluren löschten und alle Räume sichern konnten. Auch Nishah wurde in seiner Residenz versteckt und von mehreren Dutzend bewaffneten Bodyguards umsorgt. Wenn der Plan erfolgreich verlaufen sollte, musste Ella unbemerkt verschwinden. Und wenn nicht unbemerkt, dann schnell. Die andere Seite der Medaille war jene, dass sie nicht wusste, ob sie es übers Herz bringen würde, Asherah ins Gesicht zu sehen und zu sagen, dass sie geht. Ganz zu schweigen davon, dass sie sein wertvolles Buch gestohlen hat.
„Ich spüre Unsicherheit."
„Kaegan, hör auf."
„Nicht doch von dir. Lehne dich nach vorn über den Sattel und sieh dich schweigsam um, ja?"
Das Tier wurde langsamer und durchquerte einen kleinen Fluss, der geradlinig durch den Garten schnitt. Zu einer der Brücken zu reiten stand nicht zur Debatte, ihre Konstruktionen machten es unmöglich, sie unauffällig zu überschreiten. Das Wasser reichte Ella bis an die Fersen und in den Steigbügeln verhedderten sich Pflanzen, die sich mit ihren langen und robusten Wurzen trotz des Stroms am Platz hielten. Naja, bis jetzt. Leider erschwerten sie Kaegan den Weg auffällig. Ella nutzte die Position und zog das Grünzeug von den im Wasser liegenden Lederschlingen. Dabei ließ sie den Blick wandern. Es war zu dunkel für einen klaren Durchblick aber sie vertraute auf die Fähigkeiten ihres Begleiters. Wenn er Unsicherheit vernahm, und diese nicht von Ella rührte, musste hier irgendwo ein Wesen in Schwierigkeiten stecken.
„Das Gefühl ist stark. Verzweifelt. Was willst du tun?"
„Hast du solch Verzweiflung bei der Seherin gefühlt, die uns an den Hecken überrumpelt hat? Ich weiß nicht, was der Auslöser für diese Entwicklung unter den Gemütern der Seher ist aber sie alle verlieren den Verstand. Auf der Versammlung gab es die verschiedensten anderen Rassen, alle verhielten sich völlig normal. Wenn diese Situation etwas anderes ist, können wir einen Blick riskieren."
„Es ist etwas anderes, Tatsache. Doch solltest du achtsam bleiben. Wenn es nach mir ginge, musst du so bald wie möglich das Kleid gegen eine Schutztracht eintauschen. Wenn eine Rettung der Könige gelingen soll, müssen wir erstmal dich schützen. Die Attentäter haben es nämlich in erster Linie auf dich abgesehen, das dürfte klar sein.", sekundierte er, wurde aber mit jedem Wort leiser und verstummte dann gänzlich. Mit geneigtem Kopf bahnte er sich seinen Weg voran und steuerte dabei immer weiter von den Lichtquellen der Irrlichter ab.
Wo das Pferd beinahe mit der Dunkelheit verschmolz, stellte sich gleiches mit Ella in dem teilweise weißen Kleid als schwierig dar. Der dunkle Dreck von dem Sturz im Tunnel wurde schon wieder vom Stoff geschüttelt, der nun freudig jedes Bisschen an Helligkeit zu reflektieren versuchte. Denselben Effekt hätte sie mit einer blinkenden Zielscheibe auf dem Kopf, alles andere als von Vorteil.
„Das unbekannte Wesen scheint sich gezielt von uns zu entfernen, als würde es fliehen. Ich vermute, dass es uns gehört hat. Aber auch Asherah kann nicht weit sein. Der Teil des Gartens, der noch unter royalen Besitz fällt, endet bald, und darüber hinaus kann es für jemanden in seinem geschwächten Zustand gefährlich werden."
Ein Blick über die Schulter entlastete das Mädchen wenigstens von einer ihrer vielen Sorgen. Das schwarze Schloss lag in tiefer Dunkelheit, das Feuer wurde erfolgreich gelöscht und alle Türme ragten wie vorher in die Wolken empor. Nichts ist zusammengebrochen, nichts loderte mehr. Aber der Schlafsaal des schwarzen Königs fiel mit Sicherheit den Flammen zum Opfer. Hätte sie das Buch aus der privaten Bibliothek nicht zu fassen bekommen, wäre es hinüber. Theoretisch hatte Ella also ein Leben gerettet und es kostete sie physisch betrachtet nur ein Stückchen ihres linken Ohres. Es tat noch weh aber das Schlimmste ging in dem Adrenalinschub während dem Sprung aus dem Fenster unter. Jetzt ertastete sie nur noch leicht angetrocknetes, wenn auch etwas klebriges Blut und einen ungefähr anderthalb Zentimeter tiefen Spalt in der Ohrmuschel vor. Das wird mindestens eine Narbe auf ewig ergeben.
„Das bedeutet, wenn wir den unkontrollierten Gartenteil erreichen, sind wir erfolgreich aus der Stadt heraus? Dann befinden wir uns offiziell nicht mehr im Zentrum des Landes?"
„Ja, das bedeutet, dass weder Asherah noch Nishah uns von da an persönlich folgen werden, sondern nur noch Wachen und Steckbriefe. Auch diese sind jedoch nicht zu unterschätzen. Solange ich in der Nähe bin, kann ich König Asherahs nächsten Zug erahnen und ihm ausweichen, das wird bald jedoch auch nicht mehr funktionieren."
Ella nickte, auch wenn Kaegan dies nicht sah. Sie hatte Angst, diese eigentlich bedeutungslose Grenze zu überqueren. Sie hatte Angst vor ihren Erkenntnissen, wenn sie diese ganze Aktion später nochmal ohne Hetze und Druck in Ruhe überdenken konnte. Vielleicht verstand sie alles falsch, interpretierte Zeichen des Buches abwegig und zog irrwitzige Schlüsse. Aber umdrehen konnte sie später noch, doch Nishahs Uhr tickte und die besaß keinen Neustartknopf. Jetzt bot sich die Chance zu entkommen, denn noch kannte man sie im Land nicht. Noch wusste abgesehen von den heutigen Gästen keiner etwas von der neuen Prinzessin. Niemand würde sie erkennen, wenn sie mit Kaegan durch die Straßen ritt. Aber den Trumpf konnte sie nur temporär ausspielen. Je länger die Mitschrift des Schreibers von heute Abend in Umlauf war, umso schlechter entwickelten sich die Chancen, unentdeckt an den Hafen zu gelangen. Glücklicherweise reisten sie in dieselbe Richtung wie die Neuigkeiten, nicht ihr entgegen.
Ella fröstelte, als sie die Beine locker ließ und folglich das kühle Nass ihre Zehen umspülte. Gänsehaut huschte über ihre Arme aber sie konnte sie nicht berühren, nicht wärmer reiben, denn ihre Finger zitterten eisig, wie sie an ihrem Ohr schmerzlich spürte. Ein so postwendender Temperaturschwung war zur aktuellen Jahreszeit nicht ungewöhnlich, in ein paar Stunden würde die Luft sich wieder erwärmen und bis dahin konzentrierte Ella sich einfach auf die ganzen anderen Probleme die sie hatte. Das sollte sich nicht als allzu schwer ergeben. Um sicher zu gehen, dass das Buch weder Wasser noch andere Beschädigungen abbekommen hat, schlug sie es wiederholt auf. Die Karte ist unverändert verblieben.
Das Mädchen konnte immer noch nicht glauben, wie sich diese uralte Schrift vor ihren Augen reanimieren konnte. Zuerst um sie zu behindern, dann um ihr zu helfen.
Am Flussufer angekommen neigte Kaegan sich stark, während er den steilen Graben hinaufstieg, woraufhin Ella sich an den Zügeln festhielt und das Buch zwischen den Schenkeln stützte. Das Nebelpferd erzählte ihr dabei leise, woran sie das Ende des Gartens auf königlichem Boden erkennen wird. Es handelte sich um ein Tal, welches von steilen Erhebungen gezeichnet wurde und sich wie der Fluss durch den Garten hindurch zog, als hätte ein Drache es in einem Flug ausgehoben. Die Landschaft wird auf der anderen Seite schlagartig an Eleganz verlieren, jedoch nicht an Wert. Was auch immer er damit andeuten wollte, den Teil verstand das Mädchen noch nicht. Sie vermutete kahlen Boden, vielleicht auch ausgetrocknete und leblose Erden. Dazu tote Bäume und ein paar herumliegende Tierschädel. Wahrscheinlich wirkte da der Einfluss eines Bilderbuchs, dass sie einst in jüngeren Jahren sah. Darin kamen nur niemals jene Nebelgeister vor, die jetzt auf einmal um sie herumschwebten. Sie zogen Kreise mit den beiden im Mittelpunkt und kleiner werdenden Radien, veränderten dabei pausenlos die äußere Erscheinung. Haare wurden immer kürzer, Kleider immer länger, Hände zu Flügeln, ein zartes Lächeln zu unglaublicher Traurigkeit oder Neutralität. Der Anblick war ebenso hypnotisierend wie beängstigend, denn sie gaben dabei kein einziges Geräusch von sich. Und näherten sich weiter. Doch auch wenn Ella immer nervöser wurde, zeigte Kaegan keinerlei Reaktion.
„Was passiert hier? Ist das normal? Was wollen die?", flüsterte sie und drückte schützend das Buch an ihre Brust. Normalerweise würde sie so etwas faszinieren, aber am heutigen Tag machte ihr alles Angst. Vorsicht war besser als Nachsicht.
Der dunkle Bass ihres Freundes erklang belustigt.
„Du hast noch keine Bekanntschaft mit Waldgeistern gemacht? Soweit ich informiert bin, gibt es eine ähnliche Spezies auf dem Meer in Hülle und Fülle. Leben in Katurah keine?"
Sie schüttelte den Kopf, er sah es nicht. Die Geister näherten sich.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ein Geist könnte dich nicht berühren, auch wenn er es wollte. Aber sie sind sehr friedlich. Eine Sprache zu lernen ist für sie unmöglich, für gewöhnlich kommunizieren sie über Körpersprache und können Botschaften übermitteln. Wenn du es schaffst, ihnen klarzumachen, was du von ihnen willst und nett zu ihnen bist, tun sie mit Freuden alles, was du dir von ihnen wünschst. Nur wird man die Kleinen mühselig wieder los."

DU LIEST GERADE
Ella - Zwischen Nebel und Hölle
FantasyIn einem Königreich, abgeschottet vom Rest der Welt durch eine Wand aus weißem Nebel, leben seit unzähligen Jahrtausenden Wesen und Tiere verschiedenster Arten. Seit der Gründung dieses Reiches herrschen die Königsbrüder Asherah und Nishah über das...