5.2

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Trotz der Erklärung ließ Ella die Geister nicht an sich ran. Sie lehnte sich im Sattel zurück und drehte den Oberkörper weg.
„In aller Regel sind sie jedoch nicht an erster Stelle derart aufdringlich. Dazu in solch großer Anzahl."
Neugierig drehte Kaegan sich mit einem der Geister, der sich auffallend Mühe gab, Beachtung zu gewinnen. Er tanzte malerisch vor den schwarzen Nüstern und gab ihm sogar einen Kuss auf die Stirn. Ella dachte, er muss eine Botschaft haben, und sie sollte recht behalten. Während die meisten aus der Gruppe sich auf ihre Tänze konzentrierten, begannen zwei unisono etwas zu flüstern. Mit lieblicher Stimme und leise wie ein Gutenachtlied. „Der König weiß Bescheid, er wartet auf dich." Diesen Satz wiederholten sie wieder und wieder, bis die Worte sich Buchstabe für Buchstabe in den blondhaarigen Kopf des Mädchens einbrannten. Kaegan blieb abrupt stehen, es wurde totenstill.
„Ella, das ist gar nicht gut."
„Nein, still bitte. Asherah weiß es? Weil eure Gedanken verbunden sind?"
Ein paar Mal wippte das Tier etwas stärker mit dem Kopf als ohnehin, Ella interpretierte es als Zustimmung. Seufzend fuhr sie sich durch die Haare und schlug das Buch in ihrem Schoß auf. Auf der Karte am Ende hatte sich wiederholt nichts verändert. Da mussten sie auch allein durch.
„Schon okay, es ist nicht deine Schuld. Was sollen wir jetzt tun...", jammerte Ella leise, in der Hoffnung, ihr Flehen würde erhört werden. Ruckartig kritzelte die unsichtbare Feder auf dem Pergament los. Bald wurde die untere Seite auf der Karte, der Südwesten, den Ella und Kaegan nicht zu durchqueren brauchten, überschrieben. Aber nur mit einem einzelnen, fett gedruckten Wort. „RENN".
„Kaegan schnell, lauf!"
Zum zweiten Mal nun überraschte sie ihn damit, mit einem raschen und unvorhersehbaren Ausruf. Zum Glück reagierte er abermals postwendend auf den unsanften Stoß in die Flanken und sprintete augenblicklich los. Die Geister fielen zurück, Ella blickte sich nicht um. Durch die schweren Atemzüge bot sich dem Pferd keine Chance, den Grund für den eilenden Start zu hinterfragen. Stattdessen rannte er, ließ sich von der eigenen Navigationsfähigkeit und dem Druck leiten, den Ella mit den nackten Fersen in den Steigbügeln auf seine Seiten ausübte. Eine immer größere Entfernung entstand zwischen ihnen und dem Fluss und Ella verlor die Orientierung alsbald. Sie wird sich nie mit diesem Gedanken arrangieren können, vor Asherah fliehen zu müssen. Vor ihrem Vater. Sie wollte lieber zu ihm und um Hilfe bitten, aber wenn sie diese Möglichkeit nicht ergriff, bot sie sich vielleicht niemals wieder. Und Asherah würde den Plan sicherlich nicht akzeptieren. Nun zog sie Kaegan mit in die Bredouille. Aber für das große Ganze wird nur so alles gut werden. Ella musste dieses Opfer bringen, sie zwang ihn immerhin zu nichts.
Bis jetzt gab es keine Spur von Asherah. Kaegan empfing noch keine Warnsignale denn seine Ohren zuckten nicht, aber der Mann hatte eine Botschaft hinterlassen. Zu seinem Nachteil. Gedanklich erinnerte Ella sich, dass die Geister ihre nebelhaften Körper alle in ein und dieselbe Richtung schwangen. Die Bedeutung dessen war ihr unklar aber sie behielt diese Richtung bevorzugt im Blick. Nur zur Sicherheit.
„Die Grenze.", keuchte Kaegan und schien tatsächlich nochmal zu beschleunigen. Vor ihnen erstreckte sich der versprochene Hügel und folgende Abgrund, dessen Tal nicht tief, von ihrer Perspektive aus aber noch nicht sichtbar war. Ella fühlte auf einmal eine eben kältere Briese als den Wind, der ihr um die Ohren pfiff. An ihrem linken Bein. Genauer gesagt an der Stelle, an welcher sie das Stilett aus dem stämmigen Schattenkörper des Pferdes gezogen hatte. Als sie sich vornüber zur Seite beugte, sah sie auch wieso. Ein kleiner Riss war übrig, hatte sich noch nicht regeneriert und machte auch nicht den Anschein, es bald zu tun. Kaegan konnte doch unmöglich verwundet sein, sein Körper bestand nie aus echter Materie. Er besaß die Fähigkeit, sich wie die Geister von eben einfach aufzulösen und dürfte dementsprechend nicht verwundbar sein. Lag sie da etwa falsch?
„Ella!"
Das Mädchen riss die Augen auf und vergaß just jede Sorge. Das war Asherah, der da nach ihr rief, und er war nicht weit. Die Mission drohte zu scheitern, sie wurden erwischt. Still und heimlich geriet in Vergessenheit, Plan B lautete, wie ihr Buch es zu formulieren pflegte, rennen. Nochmal ertönte Asherahs Stimme, laut und klar, nochmal setzte Kaegan einen Zahn zu und der Schub drückte seine Reiterin fest zurück, dass es sie, hielte sie sich nicht fest, aus dem Sattel schleudern würde. Den Beginn der Steigung erreichend, gelang es, das Tempo beizubehalten und bergauf wurde Ella gezwungen, sich zur Minimierung von Widerstand flach auf den breiten Pferderücken zu legen. Mehr Grauen bereitete allerdings die Vorahnung, gleich wieder bergab ins Tal zu stürzen und dann einen viel steileren Hang vorzufinden.
„Ich bin heute schon aus einem Fenster gesprungen", zischte sie und versuchte sich Mut zuzureden, „da wird das ein Leichtes sein. Freier Fall, tiefe Sprünge, es gibt Schlimmeres."
Den Kopf an den Pferdehals pressend, unterdrückte sie das Geräusch der Stimme des Königs. Er hielt sie dazu an, nicht weiter zu rennen aber Kaegan folgte Ellas letztem Befehl und sie selbst tat, als hörte sie ihn nicht. Bevor sie das Ende des ersten Hügels erreichten, schwangen die Zurufe zu ernsten Aufforderungen um, das Tempo umgehend zu drosseln. Den Grund dafür verstand das Kind erst, als sie den Kopf hob und das Tal vor sich liegen sah.
„Das ist doch kein Tal, das ist ein riesiger Spalt!", schrie sie erschrocken Kaegan zu. Aber ungeachtet der beiden Personen, die mittlerweile auf ihn herniederbrüllten, hielt er drauf zu. Er wollte tatsächlich springen.
„Kaegan, das ist zu weit! Selbst für dich, das schaffen wir nicht!"
„Nein, tun wir nicht.", erwiderte das Pferd und holte alles aus seinen Muskeln heraus. „Aber das müssen wir auch nicht.", setzte er hinzu, nachdem ein zweiter Schrei Ellas heiser abklang. Ihr Magen drehte sich einmal im Kreis und sie riss an den Zügeln. Nichts zeigte Wirkung. Und dann sprang Kaegan. Von dem höchsten Punkt, geradewegs in den sicheren Tod.
Doch entgegen allen Erwartungen fielen sie nicht. Nein, sie flogen über den Abgrund. Als Ella nach unten blickte, wusste sie auch warum. Kaegan trabte über eine schwarze Brücke aus Nebel, die sich vor seinen Hufen auftat und dahinter wieder verschwand. Er selbst konnte dies nicht bewirken, aber Ella wusste es besser. Auf der Seite, von welcher sie abgesprungen sind, stand auf einmal der Mann im königlichen schwarzen Anzug. Sein Gesichtsausdruck verzog sich nicht weniger geschockt, als Ella sich fühlte. Von Asherahs erhobenen Hand quoll eben dieser Nebel hervor, der die Brücke formte. Er zapfte seine letzte Kraft an, um ihnen zu helfen. Genauer gesagt half er ihnen nicht, sondern verhinderte, dass sie in den Tod stürzten. Kaegan wusste, dass er da war und er wusste, dass er sie retten würde. Aber auf der anderen Seite angekommen verlief sich seine sorgenvolle Mine in hartem Ärger. Er ballte die offene Hand zur Faust und Kaegan erstarrte augenblicklich. Er glich einer Statue, unfähig sich zu bewegen und Ella war völlig machtlos ausgeliefert. Dennoch hatte sie keine Angst. Als der König die Lippen öffnete um etwas zu sagen, kam sie ihm zuvor.
„Ich weiß was du jetzt denkst!", rief sie und drehte sich im Sattel, soweit es ihre Beine in den Steigbügeln zuließen. In der kurzen Pause hob sie flehend die Hand, er möge schweigen und zuhören. Asherah schwieg.
„Du-du wirst denken, dass ich völlig überreagiere. Dass das der Schock ist. Vielleicht stimmt das, ja! A-aber als du mir heute Morgen das gezeigt hast", sie zeigte ihm das Buch, „da konnte ich spüren, wie viel es dir bedeutet. Und dass du diesem Werk vertraust. Ich nicht, ich bin ehrlich, das habe ich auch eben erst herausgefunden, aber ich vertraue dir. Ich liebe dich und ich liebe Nishah. Und-...und das Buch hat mit mir gesprochen! Es sagt ich kann Nishah retten, ich kann euch beide retten! Wie es aussieht, werde ich dafür durch den weißen Nebel müssen, mein Gefühl sagt mir das, aber ich bin dafür bereit! Ich gebe mich nicht kampflos geschlagen! Wenn Nishah dir etwas bedeutet, und das ist offensichtlich, dann musst du mich gehen und nach der Lösung suchen lassen!"
Asherahs Ärger verflog nicht. Ella sah, dass ihn Flehen nicht umstimmte. Doch er sagte weiterhin nichts, denn Ella hob noch immer bittend die Hand, er möge schweigen und zuhören. Und Asherah schwieg. Indes meldete sich Kaegan zu Wort, trotz der Paralyse.
„Es ist gefährlich. Er ist bereit zu sterben, du nicht.", flüsterte das Tier unter extremer Anstrengung. Nickend hob sie erneut den Kopf und diesmal würde sie dem festen Blick der schwarzen Augen nicht nachgeben.
„Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als endlich eine Familie zu haben. Das war immer das einzig Eigennützige, wofür ich zu einem Gott gebetet habe, an den ich nicht glaube. Jetzt habe ich das große Los gezogen, das kann und will ich nicht verlieren. Ich bitte dich, ich kann euch nicht so schnell wieder hergeben, nicht schon in ein paar Monaten. Ich kann keine Prinzessin sein, wenn ich dafür wieder zur Waise werde. Nishah kann gerettet werden und dann musst du nicht mit ihm gehen. Ihr könnt zusammen hier bleiben. Bei mir. Ich bitte dich. Asherah, bitte."
Tränen verzerrten Ellas Sicht, der Mann in Schwarz auf der anderen Seite verschwamm für sie. Diesmal kämpfte sie dagegen nicht an. Es wäre auch nicht gelungen.

Ella - Zwischen Nebel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt