20. Oktober 2022

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Die Reise, die mein Leben verändern sollte, begann völlig harmlos.

"Hast du auch nichts vergessen?" Meine Mutter hob den kleinen lila Koffer aus dem Kofferraum und stellte ihn neben mir auf dem Bordstein ab. Ihre blaugrauen Augen musterten mich unter den farblosen Wimpern und ich rätselte, ob sich mehr Aufregung oder Sorge in ihrem Blick verfangen hatte.

Ich schnappte mir den Griff des Gepäckstücks und verkniff mir ein Grinsen.

"Ma, er hat gerade so in den Kofferraum gepasst. Ich hätte nicht mehr einpacken können!" Meine Mutter liebte ihren klapprigen, alten Toyota und ich hasste das Ding, da er über die Dämpfung und den Komfort einer selbstgebauten Seifenkiste verfügte und ich bei ihrer Fahrweise und den vielen Kopfsteinpflasterstraßen in unserem kleinen Ort immer so durchgeschüttelt wurde, dass ich blaue Flecken bekam.  Ich zog sie oft mit ihrer alten Möhre auf und witzelte darüber. Sie war es gewohnt.

Sie verdrehte dennoch die Augen. "Du weißt wie ich es meine!"  Aber um ihre Mundwinkel zuckte es und ich sah genau, dass sie mir nicht böse war.

Sie zog mich in ihre Arme und strich mir mit der Hand über den Rücken. Ich war ein bisschen überrumpelt und gerade als ich ihre Umarmung zum Abschied richtig erwidern wollte, löste sie sich und sah mich skeptisch an. "Die Haarbürste? Den Schlafanzug?", zählte sie auf und machte dabei große Augen.

"Mama!", so langsam fand ich, dass sie übertrieb. Immerhin war ich sechzehn und wir reisten nicht ins Ausland, sondern lediglich in eine Jugendherberge nach Schleswig-Holstein. Da es aber meine erste Reise war, die mich weiter als fünfzig Kilometer von zu Hause wegbringen würde, war meine Kofferpackerfahrung in etwa so ausgeprägt wie meine Erfahrungen in Liebesdingen: wenig bis gar nicht vorhanden.

Was kein Wunder wahr, wenn man aus seinem Heimatkaff nie raus kam und die eigene Mutter überbehütender war als der beste Hirtenhund.

Ich konnte es kaum erwarten, mal wegzukommen und endlich das Meer zu sehen! Ich meine, wir wohnen an der Mecklenburgischen Seenplatte, nur circa zwei Stunden Autofahrt vom Meer entfernt und trotzdem hatte ich es noch nie gesehen. Das glaubte einem doch kein Mensch und ich wette, ich war auch die Einzige in meiner Klasse, bei der das so war.

Aber da meine Eltern gemeinsam mit meinem Opa die  Gaststätte "Zum Seemann" in unserem kleinen Ort betrieben, blieb keine Zeit für Urlaube oder Ausflüge. Denn das kleine Lokal hatte sechs Tage die Woche geöffnet und dennoch reichte das Geld gerade so, um über die Runden zu kommen. Daher half ich auch viel mit, gerade am Wochenende. Abends wollte meine Mutter lieber, dass ich Schulaufgaben machte, statt in der Kneipe zu kellnern. Wobei ich es gerade abends immer toll fand, besonders wenn Opa seine alten Seemannsgeschichten erzählte.

"Das hast du schon hundert mal gefragt! Ich habe alles und ich bin auch nicht aus der Welt!" Meine Antwort war barscher als beabsichtigt und ich drückte ihr schnell ein kleines Küsschen auf die Wange.  Ich hoffte ein bisschen, dass sie nun wieder in ihren klapprigen Toyota steigen und davon hubbeln würde, aber sie würde wohl bis zur letzten Minute bleiben und am Ende sogar noch winken. Peinlich.

Wir standen am Bahnhof unserer Kleinstadt, auch wenn hier schon seit Jahr und Tag kein Zug mehr abfuhr. Wir warteten aber auch nicht auf den Zug, sondern auf den Reisebus, der sicher jeden Moment ankommen würde.

Neugierig sah ich mich um. Die Lehrer, die uns begleiten würden, Frau Haubold und Herr Schreier und die meisten Schüler aus meiner 10. Klasse waren schon da und zum Glück, war ich nicht die Einzige, bei der die Eltern sich nicht losreißen konnten. Lisa wurde gerade von ihrer Mutter so sehr in eine Umarmung gezwungen, dass sie in der wüsten Lockenmähne ihrer Mutter fast unterging. Ihr Vater stand daneben. Mit seiner kräftigen Gestalt, der gerunzelten Stirn und den hängenden Mundwinkeln sah er immer aus wie ein Deutscher Boxer - also ich meine natürlich die Hunderasse; nicht die Sportler. Heute hatte der Boxer sein Herrchen verloren, zumindest guggte er so drein.

Auch Hannahs Eltern - Frau und Herr Melzer - waren hier.  Sie standen mit ihrer Tochter ziemlich abseits.  Als Hannah mich entdeckte, kam sie gleich zu mir gesprungen, sodass ihre feuerroten Locken auf ihren Schultern hüpften. Sie ließ die beiden einfach stehen, wie bestellt und nicht abgeholt.

"Iliana! Da bist du ja endlich!" Sie hakte sich bei mir ein und zog mich mit zu Lisa.  Die steckte noch immer in der blonden Löwenmähne ihrer Mutter fest.

"Ähm", Hannah räusperte sich laut hinter Lisas Mutter und tippte mit ihren dunkelgrünen Converse-Chucks ungeduldig auf den Pflasterboden. Da das noch nicht half, legte Hannah nach. "Hi Lisa! Guten Tag Frau Hübner!", rief Hannah nun mit ihrer lauten, fröhlichen Stimme direkt in die Löwenmähne hinein.

Das wirkte, denn Frau Hübner ließ endlich von Ihrer Tochter ab. Sie hatte Tränen in den Augen, wie ich betroffen feststellte. Lisa nutzte diese Chance und kam eilig zu uns. Dabei winkte sie noch schnell ihrem Papa zu. "Macht euch keine Sorgen!", rief sie im Gehen, was sie besser gelassen hätte.

"Und keinen Alkohol!", bellte, äh ich meine ermahnte, der Papa jetzt nämlich in einer Lautstärke, dass es der ganze Platz mitbekam und ich mich schnell wegdrehte. Und ich dachte, meine Mama wäre peinlich.

Naja, wir waren aber eben auch nicht die In-Crowd, sondern eher die Außenseiter in der Klasse, wobei wir auch nicht direkt unbeliebt waren. Wir machten eben nur mehr unser Ding. Ich fand das aber voll in Ordnung. Ich wusste bei den meisten aus der Klasse einfach nicht, über was ich mich mit ihnen unterhalten sollte, denn mir am Wochenende auf irgendwelchen Partys die Seele aus dem Leib zu kotzen, gehörte nicht zu meinen Hobbys. Das schien aber die Lieblingsbeschäftigung der anderen zu sein, zumindest redeten sie ständig davon und überboten sich gegenseitig damit, wieviel sie getrunken und anschließend gekotzt hatten. Ich hatte mal gelesen, dass der Alkoholkonsum unter den Jugendlichen seit Jahren rückläufig sei. Dieser Trend war bei uns auf dem platten Land anscheinend noch nicht angekommen. Also kurz gesagt; mit den meisten von denen hatte ich nichts zu bereden.

Bis auf Noah. Mit dem würde ich schon gern mehr reden.

Ich sah zu ihm rüber. Er stand da, an der anderen Seite des großen Platzes, mit seinen beiden Kumpels Christian und Eric. Er trug eine graue, verwaschene, enganliegende Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Seine Jacke hing achtlos über seinem Koffer, der neben ihm stand. Wie konnte er bei so einem Wetter nur so lange ohne Jacke da stehen ohne Gänsehaut zu bekommen? Es war schließlich Ende Oktober, aber ich sollte mich nicht beschweren, denn das schwarze T-Shirt bescherte mir einen schönen Ausblick auf seine wohlgeformten und vom Sommer noch gebräunten Oberarme.

Hm, ich seufzte leise. Auch wenn ich es nicht gern zu gab, so war ich doch ein bisschen in ihn verschossen und ich wollte lieber gar nicht wissen, wie vielen Mädels aus unserer Klasse es noch so ging, denn ich war da bestimmt nicht die Einzige.

Und will es der Teufel? Da näherte sich auch schon Beatrice. Sie reckte ihre Oberweite vor, dabei trug auch sie keine Jacke und ihr T-Shirt war noch nicht einmal lang genug, um ihren Bauchnabel oder ihre Hüften zu bedecken. Sie wird sich die Nieren verkühlen, hörte ich automatisch die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Ja, soll sie sich die Nieren verkühlen und die ganze Klassenfahrt krank im Bett liegen!

"Ich hoffe mir wird im Bus nicht schlecht", unterbrach Lisa plötzlich meine Gedanken. "Ich habe Bus fahren noch nie gut vertragen."

"Ich glaube, mir wird jetzt schon schlecht", murmelte ich und zwang mich, den Blick von Beatrice abzuwenden, die Noah nun erreicht hatte und sich mit ihm und seinen Freunden unterhielt. Hauptsache die beiden sitzen nachher nicht zusammen.

"Na, zum Glück fahren wir nicht lange. Es sind nur dreieinhalb Stunden Mädels."Hannah legte eine Hand auf meine Schulter und eine auf Lisa's. Sie zwinkerte mir zu und entlockte mir ein Lächeln. Vor ihr kann man nichts verbergen.

Hätte ich gewusst, dass mich etwas weitaus Unheilvolleres erwartete, als eine Tussi, die sich an meinen heimlichen Schwarm ranschmiss, hätte ich ohne zu zögern auf diese lang ersehnte Reise verzichtet und wäre stattdessen mit meiner Mutter in ihrer alten Seifenkiste nach Hause gefahren.  Doch leider hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung.

Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt