21. Oktober 2022: Zu viele Totenköpfe

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Der Dunkelhaarige und der Blonde schafften Lisa und Eric nach draußen.

Ich sah ihnen mit offenem Mund nach, unfähig zu verarbeiten, was geschah. Das Uhrwerk in meinem Kopf hatte sich erneut verhakt und ruckelte nur schleppend vor sich hin. Die Angst um meine Freunde war die Unruhe, die das fragile Gleichgewicht des Räderwerkes störte und dieses Mal gab es keinen Anker, an dem ich mich festhalten konnte.

„M...Ma...Macht der, was er sagt?", stotterte ich. Ich war komplett durcheinander, meine Gedanken und Ängste überschlugen sich, wie riesige Wellenbrecher, einer höher als der Andere. Ich meinte natürlich den blonden Piraten.

Der Kapitän sah mich an. „Wooyoung?", fragte er. Mit seiner melodischen Stimme erzeugte der fremdländische Name einen wohlklingenden Nachhall in meinen Ohren. Hongjoong lächelte. „Klar."

Er strich mit seiner Hand über die Tischplatte, in der sich das Mondlicht genauso spiegelte, wie draußen auf dem dunklen Meer. „Wie ihr vielleicht schon erraten konntet, ist dies keine gewöhnliche Crew."

Nun fuhr er mit dem Finger über eine der am Rand unter der Tischplatte eingeschnitzten Verzierungen und erst jetzt erkannte ich, dass sie einen Totenkopf zeigte. Die feinen, eingekerbten Linien zierten den nackten Schädel und sahen für sich betrachtet wunderschön, beinahe grazil aus. In ihrer Gesamtheit vereinten sie sich aber zu einem Horror-Totenkopf mit darunter gekreuzten Entermessern. Unverkennbar ein Piratensymbol. Die gesamte Tischplatte ruhte auf unzähliger dieser makaberen Totenschädel.

„Meine Männer sind skrupellos. Jeder von ihnen ein Killer. Jeder Einzelne ein Mörder - dies gilt ihm übrigen auch für mich." Sein Blick war arrogant, sein Lächeln wölfisch, aber dann senkte er die Lider und ich hatte das Gefühl, dass er an frühere Zeiten dachte.

„Uns ist ein Menschenleben weniger wert, als eine Buddel voll Rum", fuhr er schließlich fort und die Härte dieser vernichtenden Wahrheit prägte sein Gesicht und seine Tonlage.

„Und wie schon erwähnt - haben sich meine Jungs und ich in letzter Zeit sehr viel gelangweilt. Denn Warten ist nicht gerade eine unserer Lieblingsbeschäftigungen." Er schnippte eine winzige Staubfluse vom Tisch und schenkte uns dann  sein schönstes Lächeln, bei dem wir die für einen Piraten beeindruckende Reihe leuchtend weißer Vorderzähne bestaunen konnten.

„Auf was habt ihr gewartet?" Seine Andeutungen entfachten meine Neugier, wie der Wind ein fast erloschenes Feuer mit einem Hauch neu entzünden konnte.

„Auf die  Zeit für unsere Rache." Er sah mir direkt in die Augen. Er hatte die Augen eines Jägers.

Auch wenn ich nichts verstand wurde meine Übelkeit immer heftiger. Sie schwoll in mir an, schneller als der Meeresspiegel bei hereinbrechender Flut ansteigt.

Mein Verstand begann wirre Bilder zu malen, die zeigten, wozu er fähig war. Bilder mit viel Rot und Schwarz.

„Weshalb wollt ihr euch rächen? Und warum an uns?" Meine Stimme klang leicht wirr, wie die Bilder, die mir noch im Kopf rumspukten.

Er grinste nur. „Bis Sonnenaufgang habt ihr Zeit es herauszufinden. Ihr solltet die Zeit nutzen."

„Meinen Freunden wird also bis Sonnenaufgang nichts geschehen?"

Den Mund spöttisch verzogen, neigte er seinen Kopf hin und her. Er machte mich wirklich fuchsteufelswild.

„Ihr seid der Kapitän dieses Schiffes - gebt mir Euer Wort, dass ihnen nichts geschieht!" Ich unterdrückte die Übelkeit bestmöglich und presste die Forderung durch meine Zähne hindurch. Es war nicht so, dass ich dem Piratenkönig über den Weg traute, aber galt das Wort eines Kapitäns nicht wie ein Versprechen?

„Nichts geschieht?", wiederholte er, zog die Brauen hoch und lachte.

„Iliana" Er sprach meinen Namen so sanft aus, dass ich meine Übelkeit vor Überraschung vergaß. Woher kannte er ihn überhaupt? „Euch allen wird in dieser Nacht etwas geschehen. Ihr allein habt es in der Hand, was das sein wird." Seine Stimme klang so schmeichelnd, als könne er keiner Fliege etwas zu Leide tun. Aber seine Augen erzählten vom Gegenteil.

Elender egozentrischer Selbstdarsteller.

Konnte er nicht einmal eine klare Aussage treffen. Seine Augen taten es. Sie glitzerten vor Gefahr und Vergnügen. Gefahr für uns und Vergnügen für ihn; und ich erkannte in ihnen die wilde Kraft des Meeres.

Er war wie die Wellen des Ozeans, die sich mit unerbittlicher Wucht ihren Weg bahnten und dennoch in der Sonne glitzerten wie das Betörendste auf der Welt.

Er war gefährlich, aber hinreißend.

Und er schenkte mir ein Lächeln.

Ich wurde feuerrot. Hatte er etwa meine Gedanken gelesen?

Nach seiner Aktion mit dem Ozean in meinem Kopf war ich mir fast sicher, dass er Gedanken lesen konnte. Die plötzliche Scham lenkte mich von der Übelkeit ab und ich nahm mir fest vor, ihm nie wieder in die Augen zu sehen.

„Gebt mir Euer Wort, dass ihr ihnen nichts antun werdet!" Ich konnte auch stur sein, wenn ich wollte. Aber es war fast unmöglich, von jemandem etwas mit Nachdruck zu fordern, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen.

Er betrachtete mich nachdenklich, dann neigte er seinen Kopf und sagte: „Ich gebe dir mein Wort, dass wir sie nicht umbringen." Erleichtert atmete ich aus. „Zumindest nicht absichtlich", fügte er an.

Sein Lächeln würde mich bis in meine Albträume verfolgen, wenn wir es denn von diesem Schiff runter schafften und ich überhaupt nochmal die Gelegenheit zum Träumen bekäme.

Doch im Moment sprach alles dafür, dass wir nie von diesem Schiff entkommen würden. Pure Verzweiflung vermischte sich mit der Übelkeit zu einer ekligen Mischung.

„Aber wir brauchen eine faire Chance!", japste ich und versuchte, den aufsteigenden Geschmack von altem Fisch in meiner Speiseröhre zu ignorieren.

„Die hattet ihr. Der Ausgang im Laderaum war ja sogar als Notausgang gekennzeichnet." Er gluckste. Er hatte wirklich einen komischen Sinn für Humor. „Und ich werde euch erneut eine Chance geben", antwortete er zu meiner Überraschung und dieses Mal war er vollkommen ernst.



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Bildquelle Bild oben: https://www.figuren-shop.de/de/totenkopf-figur-mit-feinen-ornamenten

Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt