21. Oktober 2022: Noch mehr Seekarten

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Verloren. Der Sog dieses Wortes zog mich in die Tiefe.
Doch dieses Mal waren daran weder die fremde Umgebung noch der Piratenkönig schuld. Im Gegenteil; er blieb auf Abstand und sah ruhig dabei zu, wie ich in Panik versank.

Wie viel Zeit verblieb noch? Die Uhr hatte gegongt. Der Tod rückte näher. Schweiß sammelte sich in meinem Haaransatz. Das hier war schlimmer, als in Chemie die Formeln nicht zu raffen. Ich würde das System nie begreifen! Aber hier ging es um mehr, als um bunte Elemente in einem ollen Periodensystem. Es ging um mein Leben und das meiner Freunde.

„Du benötigst Hilfe. Schon wieder." Der Vorwurf war deutlich und goldrichtig. Wie um ihn zu unterstreichen, schüttelte der Piratenkapitän auch noch den Kopf. Und doch hing da unter seinen Wimpern eine Spur Bedauern, oder bildete ich mir jetzt schon Dinge ein? Wenn es überhaupt existiert hatte, war es verschwunden, als er mit einem breiten Grinsen die Hand ausstreckte. „Gib mir das Astrolabium und ich helfe dir!"
Um ein Haar hätte ich aufgelacht. Netter Versuch, Captain.
Und doch würde er es bekommen, spätestens zu Sonnenaufgang.

Denn ich versagte; in einer Tour. Selbst das Rätsel um Dampier hatten Christian und das Astrolabium gelöst; nicht ich.

„Weißt du, woher die Uhr ihren Namen hat?" Meine Unfähigkeit spielte Hongjoong voll ins Blatt. Umso mehr überraschte mich seine Frage, die mich aus meinen finsteren Gedanken holte.

„Die Glasenuhr?" Egal, um was es ging. Jedes seiner Worte veränderte den Sauerstoffgehalt in meinem Blut; ließ mich flattern, als wären da tausend Schmetterlinge tief in mir drin. Kein Wunder, dass ich ihm nicht gewachsen, sondern ständig abgelenkt war.

Zu meiner Freude nickte er. „Von den gläsernen Sanduhren, auch Stundengläser genannt. Sie dienten der Zeitmessung auf See, lange vor den Chronometern."

Sein Blick lag forschend auf mir. „Erinnerst du dich, wie lange es gedauert hatte, bis der Sand einmal durch die Sanduhr hindurchgelaufen war?" Seine Stimme war die eines Grundschullehres, doch ich spielte mit und dachte mit Entzücken an den schimmernden Diamantstaub zurück.

 „Eine halbe Stunde." Mein Mund war plötzlich staubtrocken.

Hongjoong nickte. „Bei der Glasenuhr ist es genauso. Sie ertönt jede halbe Stunde."

Unglaube und Dankbarkeit verstrudelten sich zu einem waschechten Gefühlschaos. Das genaue Zählsystem war mir zwar immer noch ein Rätsel, doch zumindest wusste ich jetzt, dass jedes Mal, wenn die Uhr ertönte, eine halbe Stunde futsch war.

„Wo ist sie?"

Hongjoong lachte und der Spott blitzte in seinen braunen Augen wie ein helles Blitzlicht.

„Iliana, vergiss die Uhr! Das, worauf es ankommt, ist die Zeit, die euch bleibt und der Rest befindet sich hier. In diesem Zimmer!"

Es war mehr als ein Tipp. Es war ein Befehl, den ich befolgte, ohne weitere Zeit zu vertrödeln. Aufmerksam sah ich mich um.

Mittig an der Längswand thronte der massive Kapitänstisch – ein Ungetüm aus poliertem Mahagoni. Seine Ecken waren abgestoßen, die Oberfläche von Kerben und Brandflecken gezeichnet. Neugierig trat ich näher. Auf ihm türmten sich Seekarten, deren verblasste Linien den Eindruck erweckten, als wären sie der Versuch, Hongjoongs Ziel in allen Details nachzuzeichnen und festzuhalten; den verschwundenen Schatz zu finden. Wie kam er bloß auf die Idee, dass ich dazu der Schlüssel war? Mein Zeigefinger strich über die große Kompassrose, die vorn an der Schmuckleiste in den Tisch eingraviert war. Ihre Nadel erhob sich unter meiner Fingerkuppe; zeigte stolz und bestimmt gen Norden. Die Darstellung erinnerte mich stark an ein Astrolabium, und ich konnte nicht anders, als zu schlucken. Gleichzeitig wuchs meine Bewunderung für den Piratenkönig noch mehr. Er trug diesen Fluch seit dreihundert Jahren und behielt dennoch sein Ziel fest im Blick.

Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt