Schlimmer als in der Schule

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Das Bücherregal war riesig. Die Sanduhr leider nicht.

„So und jetzt treten wir diesem Gruseltyp mal ordentlich in den Arsch und lösen sein Rätsel!" Mit diesen Worten ließ Hannah mich los und steuerte auf die beieindruckende Bücherwand zu. „Oh Mann, der hat hier ja ne ganze Bibliothek stehen! Wonach sollen wir bloß suchen?" Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Bücher besser in Augenschein zu nehmen.

„Ja, wo fangen wir bloß an?", flüsterte ich ratlos, als ich neben sie trat. Die Lettern und Zeichen auf den Buchrücken vermischten sich vor meinen Augen zu einer verschwommenen Masse.

„Bei dem, was wir wissen." Christian drehte sich mit einem dicken Wälzer in der Hand zu uns um. „Und das wäre?" Bea saß noch immer auf dem Boden, blickte skeptisch zu uns und kaute auf ihrer Unterlippe, wie auf einem Kaugummi.

„Piratenkapitän Kim Hongjoong. Iliana, du kennst ihn am besten." Bea kniff bei Christians Worten die Augen zusammen und ich merkte, wie meine Wangen heiß wurden. „So würde ich das nicht sagen", wich ich aus.

„Ach kommt schon, so meinte ich das nicht! Seine Geschichte! Seine Legende! Es muss etwas mit ihm zu tun haben!"

Da war was dran. Ich nickte. Doch das zarte Zupfen der Freude, des Rätsels Lösung einen Schritt näher zu kommen, wurde sofort von einem eisigen Schrecken weggewischt:

Meine Vergangenheit war mit der des Piratenkönigs verknüpft.

Angedeutet hatte er es ja schon öfters, aber seine Worte waren wie Wassertropfen an einer imprägnierten Oberfläche abgeperlt. Sie hatten mich nicht erreicht. Ich war viel zu abgelenkt gewesen von ihm, seinem Aufzug, seinem Lächeln, seinen Augen; kurz von allem. Aber jetzt, da er den Raum verlassen hatte, kam die Botschaft mit voller Wucht bei mir an.

Meine Hände zitterten vor Aufregung, als ich mein Astrolabium unter meinem Pulli hervorzog.

Aufmerksam betrachtete ich die schlanken Zeiger, die Tierkreiszeichen und die Skalen für die Winkelmessung und die Bestimmung der Längengrade, als sähe ich sie zum ersten Mal.
Die vergoldete Scheibe lag schwer und glänzend in meiner Hand - eine echte Kostbarkeit. Seit ich das Astrolabium bei meinem Opa im Schrank gefunden hatte, war es mir ans Herz gewachsen, als wäre es ein Teil desselben. Ja, wäre es eine Taschenuhr, hätte ich behauptet, mein Herz schlüge mit ihm im gleichen Takt. So fühlte es sich an.
Ich hatte meinem Opa Löcher in den Bauch gefragt, zu diesem prachtvollen Anhänger, den er bis dahin in einer Schatulle verborgen gehalten hatte. Er hatte mir erklärt, dass es ein astronomisches Rechen- und Messgerät sei, mit dem sich Seefahrer auf dem Meer orientieren konnten. Für mich war das so faszinierend, dass ich es seitdem kaum abgelegt hatte.

Und es war mehr als nur sein goldener Glanz, der mich faszinierte: In diesem Anhänger waren Geheimnisse verborgen, Geschichten aus vergangen Zeiten. Er hatte schon tausende Meilen auf See hinter sich. Und nun sollte er sogar etwas mit dem Piratenkönig Kim Hongjoong zu tun haben?

Meine Nase war jetzt so runzelig, wie die Schnauze eines Hängebauchschweines. Ich hatte das Astrolabium von Opa, aber er war nie zur See gefahren. So viel wusste ich sicher. Er hatte es von seinem Opa bekommen und dieser von seinem. Es war ein Familienerbstück. „Meine Familie", hauchte ich, als ich verstand, dass es hier tatsächlich um ein Familiengeheimnis ging.

Christian nickte vorsichtig und Hannah beäugte mein Astrolabium näher. „Du meinst, dieses Ding hat etwas mit Hongjoong zu tun? No way! Ich meine, wie lange soll das her sein? Diese Geschichte, die du uns erzählt hast?" Sie sah mich an und ihre Augen leuchteten frühlingsgrün vor Aufregung.

„1709" murmelte ich. Jahreszahlen konnte ich mir zum Glück immer ganz gut merken und Geschichte war eines meiner Lieblingsfächer.

„313 Jahre." Christian trat ehrfürchtig näher.

Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt