In den Fängen des Seemonsters

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Hongjoong zögerte mit der Antwort.

Er nahm sich die Teetasse mit der dunkelsten Zeichnung. Sie zeigte eine Unterwasserhöhle mit schroffen Felsen und einem riesigen Kraken mit gewaltigen Tentakeln. Das Motiv erinnerte mich an den Kraken aus Jule Vernes 20 000 Meilen unter dem Meer. Ich liebte die Geschichte von Professor Aronnax, Kapitän Nemo und der Nautilus; hatte als Kind aber schreckliche Angst vor diesem Monster, dem Kraken gehabt. Das ging sogar so weit, dass ich mich nicht mehr an das Ufer der Müritz getraut hatte, weil ich dachte, dort im Wasser lebte ein Riesenkraken, der kommt und mich holt.

Mein Opa hatte mich damals beruhigt und gemeint, Röbel sei so weit weg vom Meer, dass kein Monster der Meere uns jemals finden würde. Irgendwann war ich alt genug und das Monster war vergessen. Und je kleiner meine Angst vor Monstern wurde, umso mehr kam mir die Müritz wie eine absolut unspektakuläre Badewanne vor und umso größer wurde meine Sehnsucht nach dem Meer.

Ach, Opa, wenn du wüsstest, dass ich nun tatsächlich in die Fänge eines Monsters geraten war. Auch wenn es kein grässlicher Kraken war, der mich umklammert hielt, so war ich doch gefangen. Gefangen auf dem Schiff des Piratenkönigs Kim Hongjoong ohne die geringste Hoffnung auf Flucht, so wie Professor Aronnax auf der Nautilus. Bloß dass der Piratenkönig noch furchteinflößender war, als der eigenbrötlerische, menschenhassende Kapitän Nemo. Denn Hongjoong würde uns nicht am Leben lassen, er wollte uns hinabziehen in die Tiefen des Ozeans, so wie der Riesenkraken es mit der Nautilus vorhatte.

Grässlich war bei Hongjoong aber der falsche Ausdruck. Bedrohlich – ja, auf jeden Fall; gefährlich – ja, aber hallo; nur war er eben leider auch so betörend schön, wie kein Riesenkranken es jemals sein könnte.

„Ich sagte es bereits. Du solltest rausfinden, wer du bist und woher du kommst -dann wirst du auch wissen, was deine Familie bisher vor dir verheimlicht hat." Hongjoongs Stimme riss mich aus meinen Gedanken und weg von dem Monster auf seiner Tasse. „Und dann wirst du auch wissen, was ich von euch will."

Ich sah zu ihm - er grinste wie ein Haifisch.
„Und ihr anderen solltet ihr dabei helfen, denn euer aller Leben hängt davon ab."

Er ließ seinen Blick über meine Freunde schweifen, wie ein Hai, der seine Beute umkreist.

Ok. Grässlich passte doch hervorragend. Er war grässlicher als jeder Monsterkraken jemals sein könnte. Ich verstand nicht ganz, was er von mir wollte, aber es musste ihm sehr wichtig sein, wenn er so einen Hype darum machte und soviel Aufwand betrieb. Dass er meine Freunde, die anscheinend rein gar nichts mit der Sache zu tun hatten, da es um meine Familie ging, aber ebenfalls hier fest hielt und massiv bedrohte, brachte das Blut in meinen Adern förmlich zum kochen und mich zum brodeln.

Ich war kurz davor, meine Teetasse zu nehmen und sie ihm, dem grässlichsten Monsterkraken von Allen, direkt ins Gesicht zu werfen.

Ich streckte meine Hand aus, doch erstarrte auf halbem Wege, denn ich spürte Hongjoongs stechenden Blick auf mir.

In meinen Adern brodelte plötzlich keine Wut mehr, sondern Panik. Hatte er mitbekommen, was ich gedacht hatte? Ich hatte ihm doch gar nicht in die Augen gesehen. Seine bronzebraunen Augen blickten wachsam und warnend. Und die hauchdünnen Härchen auf meinen Armen stellten sich ganz von alleine auf, als ich einen zweiten bohrenden Blick in meinem Nacken spürte. Ich drehte langsam den Kopf und sah in dunkelschwarze Augen. Der erste Offizier musterte mich ebenso aufmerksam wie Hongjoong.

Meine Hände waren plötzlich kalt und zitterten. Ich hätte sie gern an der heißen Teetasse gewärmt, traute mich nun aber nicht mehr, nach ihr zu greifen, da ich sonst sicher Bekanntschaft mit dem reichverzierten Schwert des ersten Offiziers gemacht hätte.

Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt