Ich hatte es! Der Schwung katapultierte mich noch einige Schritte vorwärts. Meine Hände waren so schwitzig, dass das Buch mir fast aus den Fingern rutschte. Mit dieser Aktion hatte ich nicht nur Hongjoong überrascht, sondern vor allem mich selbst. Doch als ich mich zu ihm umwandte, sah sein Blick unter den zusammengezogenen Brauen schon nicht mehr überrumpelt, sondern nur noch gefährlich aus.
„Du bist hartnäckig." Hartnäckig - nicht nervig. Wäre sein Blick nicht so grimmig gewesen, hätte ich sein Schmunzeln glatt als Kompliment aufgefasst.
„Wie du. Du suchst seit dreihundert Jahren." Es war komisch, aber es fiel mir leichter, mich auf ihn zu fokussieren, als auf meine eigene Situation. Die Aussicht, bald unterzugehen, lähmte mich, wogegen die Chance in seiner Vergangenheit zu stochern und womöglich etwas Bedeutendes zu finden, mich anstachelte.
„So? Dabei habe ich es doch gefunden." Seinem selbstsicheren Lächeln war mein Herz nicht gewachsen. Es überschlug sich förmlich in meiner Brust und kapitulierte vollkommen, als er auf mich zukam. Oh! Ich und meine verdammte Neugier! Hitze kribbelte unter meiner Haut und brachte sie zum Glühen. Es war unmöglich, ihm ins Gesicht zu sehen.
Die goldenen Knöpfe auf seinem Hemd wurden mein Fixpunkt. Aus der Ferne unscheinbar, strahlten sie beim Näherkommen wie kleine Sterne. Und als ich sie direkt vor der Nase hatte, kam ich nicht umhin, die filigran vergoldeten Strahlen zu bestaunen.
Da hob Hongjoong die Hand. Aus den Augenwinkeln sah ich nicht viel. Ich fühlte aber, dass seine Fingerspitzen nur Mikrometer von meinem Hals entfernt schwebten. Es war diese Fastberührung, die meine Nerven zum brodeln brachte und meine Vorstellungskraft überkochen ließ.
Wärme strahlte aus seiner Hand über meinen Hals bis hinauf an mein Ohr. Meine Vorstellung spulte bereits ab, wie er sanft eine verirrte Strähne hinter mein Ohr gleiten ließ. Mein Blick huschte hoch zu seinen Lippen. Seine unerwartet zärtliche Nähe erschreckte und erschütterte mich bis ins Mark. Er lächelte und beugte sich näher und ich reckte den Kopf noch etwas mehr, um in seine Augen zu sehen. Denn da war dieser Wunsch. Unterschwellig und doch ursprünglich, so wie das Flüstern des Meeres. Ein Kuss. Ja, verdammt! Ich wünschte in diesem Moment nichts mehr als ihn zu küssen. Es tat weh. Überall. Das Schlimme war, dass es schien, als hätte er noch nicht einmal etwas dagegen. Doch es ging nicht. Als mir klar wurde, was da in meinem Kopf abging, sank ich zurück auf meine Fersen und senkte schnell den Blick.
Er war gefährlich. Auf so viele Weisen. Jeder Blick, jedes Wort, jede Bewegung; ein Spiel mit dem Feuer oder den Tiefen des Ozeans. Mühsam rettete ich mich selbst in die Realität zurück, als ein plötzlicher Ruck meinen Nacken durchfuhr. Es ratschte. Hongjoong zerrte das Band um meinen Hals so abrupt zu sich, dass ich hart gegen seine Brust prallte. Einer der kleinen Sternenknöpfe bohrte sich in meine Stirn und hinterließ einen fiesen Abdruck.
Autsch! Zu dem spitzen Schmerz in meinem Kopf gesellten sich flammende Stiche in meiner Brust. Hitzig vor Scham und Wut und noch etwas anderem, von dem ich wünschte, er hätte es nicht mitbekommen, stieß ich ihn von mir.„Pfoten weg!" Und damit meinte ich mehr als nur das Astrolabium.
Dabei war ich es, die beinahe den ersten Schritt gewagt hätte.Doch Hongjoong grinste mich einnehmend an. „Wenn du weißt, dass du mit dem Feuer spielst, warum tust du es dann?" Sein Necken klang aufrichtig neugierig. Ja. Warum? Ich verfluchte mich selbst. Wie konnte ich nur so naiv sein, auch nur einen Moment zu denken, dass der Typ einen weichen Kern hätte? Er war ein toter Mörder, dessen Innerstes über die Jahrhunderte zu schwarzem Stein verrottet war. Niemals würde ich ihn küssen! Nie! Ich schleuderte ihm diese Gedanken entgegen. Dass er sich nur ja nichts einbildete!
Gleichzeitig kämpfte ich gegen den Drang, meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Doch natürlich war es Quatsch, ihm etwas vormachen zu wollen.
„Richtig, Iliana. Vegiss nie, wen du vor dir hast." Seine Iris funkelte wie die See bei Nacht als er erneut an dem Lederband zog. Nicht ruckartig, aber so, dass ich in kleinen Trippelschritten auf ihn zu steuerte. Er neigte den Kopf und schürzte die Lippen. Wie er es machte, blieb mir ein Rätsel, doch ich verfiel dem Zauber und versank in seinem Bann. Ich hielt den Atem an und ergab mich dem Moment, beobachtete, wie seine Lippen sich der Scheibe näherten, die mir so viel bedeutete. Während sein Blick meinen festhielt, hauchte er einen Kuss gegen das Metall. Der Zeiger reagierte als hätte er darauf gewartet. Er ruckelte und drehte sich bis die Spitze mit der kleinen Peilhilfe direkt auf mich zeigte.
Ich zwinkerte. Das Astrolabium. Das Geschenk meines Großvaters. Das Navigationsgerät war über dreihundert Jahre alt und doch funktionierte es fantastisch! Gerade jetzt half es, mich zu besinnen.
„Als ob ich das könnte!" Meine Stimme war schriller als normal und meine Wangen kochten. „Einen halbtoten Piratenkapitän, der nichts kann, außer ein paar Kids zu erschrecken!" Ich riss ihm das Astrolabium aus der Hand und taumelte zurück.
Ein Feuer brannte. Es loderte mit zerstörerischer Kraft. Dumm nur, dass ich den Flammen zum Opfer fiel und nicht er.
"Vielleicht hast du Recht." Hongjoong neigte den Kopf. Seine Stimme war gefroren, doch sein Lächeln war das des Teufels.
Mir wurde eiskalt und im nächsten Moment zerschlug ein Donner das Schiff. Zumindest hörte und fühlte es sich so an. Die Wände knarzten, als würden sie aus den Fugen gerissen und der Boden wackelte unter meinen Füßen. Ich schrie in wilder Panik und klammerte mich an dem fest, das mir geblieben war; meinem Anhänger und Dampiers Buch. Doch als ich in Hongjoongs Augen sah, fraß der Schrecken sich bis tief in mein Herz. Er wusste es. Er war es. Doch bevor ich weiter von ihm abrücken konnte, ertönte der nächste Schlag. Und da begriff ich: Es war die Uhr. Die Glasenuhr schlug die letzte Stunde.
Und als Hongjoong mich an den Schultern packte, rutschte das Buch aus meinem Griff und fiel polternd zu Boden.
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Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)
Fanfiction"Willkommen auf meinem Schiff!" Die Worte, gesprochen von einer melodischen aber eiskalten Stimme, durchdrangen die Dunkelheit um mich herum und vermittelten mir das Gefühl, einsam in den tiefen Weiten des dunklen Ozeans zu treiben, mühelos, von d...