„Ihr sollt noch eine Chance haben."
Hatte er das wirklich gesagt? Oder spielte mir meine Verzweiflung einen Streich? Bildete ich mir schon Dinge ein, die nicht existierten? Gespannt beobachtete ich ihn. Die Übelkeit war vergessen. Sie war einer fast unaushaltbaren Anspannung gewichen, die mir die Schultern nach oben zog und mich die Kiefer aufeinanderpressen ließ, so fest, dass es weh tat.
Hongjoong schritt zum Tisch und zeichnete knapp über der Tischfläche einen Umriss in die Luft: Wie eine Acht in einem eckigen Rahmen.
Gebannt folgte ich der Bewegung seines schlanken Fingers. Und ich glaubte zu träumen: So wie er mit dem Finger durch die Luft strich, erschien eine Linie aus goldenem Licht. Die Linie schwebte bevor sie, wie in Zeitlupe, eine feste Form annahm. Die Form einer Sanduhr.
Die zwei miteinander verbundenen Glaskolben hingen in einer filigranen Halterung aus geschnitztem Ebenholz. Am faszinierendsten aber war der Sand, der sich im unteren Kolben sammelte. Er glänzte, wie feingemahlenes Gold.
Ich blinzelte, denn es überstieg meine Vorstellungskraft, dass er eben aus dem Nichts heraus einen Gegenstand hervorgebracht – nein, hervorgezaubert hatte. Ich verspürte den Drang, die Sanduhr anzufassen. Es juckte regelrecht in meinen Fingern, sie zu berühren.
„Es dauert 30 Minuten, bis der Sand einmal hindurchgelaufen ist", erklärte der Kapitän. Das Bedürfnis, zum Tisch zu laufen, um die Sanduhr aus der Nähe zu betrachten, war stark, aber Hongjoong stand zu dicht dran. Ihm wollte ich lieber nicht zu nahe kommen.
Er sah von der Sanduhr auf und erklärte ernst: „Ich stelle euch jetzt ein Rätsel. Wenn ihr es nicht löst ...", er ließ den Satz unbeendet und die fehlenden Worte flogen wie Geister durch den Raum und hauchten jedem von uns ihren eisigen Schrecken ins Gesicht. Bevor jemand nachfragen konnte, tippte der Kapitän mit dem Finger gegen seinen Ankerohrring. Und da hörten wir ihn: den durchdringenden Doppelschlag der Glasenuhr. „Wenn ihr es nicht löst..." Er platzierte seine Worte so, dass der Hall des schweren Gongs sie unterstrich. „Werdet ihr dem Tod noch vor Sonnenaufgang begegnen." Sein entgültiger Blick setzte das Ausrufezeichen hinter seiner Drohung. Die Botschaft hätte nicht eindeutiger sein können: Es ging um Leben und Tod.
Der Nachhall der beiden Gongschläge war verklungen.
Es war totenstill im Raum. Die Stille war erdrückend, denn sie war überall; auch in mir drin. Das Grauen war zu groß um irgendetwas anderes, als absolute Grabesstille zuzulassen. Es verschlang alle Geräusche und Empfindungen, wie ein hungriges Monster.
Der Kapitän sah in unsere versteinerten Mienen, in denen die Furcht eingraviert war, wie die Inschrift auf Grabsteinplatten und er fügte mit einem verständnislosen Kopfschütteln hinzu:
„Ihr wolltet eine Chance. Es ist eine Chance – für beide Seiten." Das Funkeln in seinen Augen verriet, wie ihm das gefiel: Unser Entsetzen. Unser Grauen. Er hatte von Rache gesprochen. Und er lebte sie an uns aus. Er genoss jede Sekunde. Ich ertrug sein Vergnügen nicht länger und sah zur Sanduhr. Die Vorstellung, dass er diese Kostbarkeit jeden Moment umdrehen würde und der goldene Sand darin über unsere Zukunft, oder wie er es genannt hatte Leben und Tod entscheiden würde, ängstigte mich gewaltig.
Doch gleichzeitig hatte ich nie etwas Schöneres gesehen.
Die Sanduhr war wie er: Wunderschön aber furchteinflößend; faszinierend aber todbringend. Sie war gefährlich, genau wie er.
„Also, um was geht es?", fragte ich ihn, während ich den goldschimmernden Sand betrachtete. Diamantstaub?
„Es geht um die Wahrheit", antwortete er. „Wie ihr bereits gemerkt habt, steckt in jeder Geschichte ein Körnchen Wahrheit und in manchen sogar mehr als einem lieb ist."
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Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)
Fanfiction"Willkommen auf meinem Schiff!" Die Worte, gesprochen von einer melodischen aber eiskalten Stimme, durchdrangen die Dunkelheit um mich herum und vermittelten mir das Gefühl, einsam in den tiefen Weiten des dunklen Ozeans zu treiben, mühelos, von d...