21. Oktober 2022: Glitzernder Ausweg

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Der Wind peitschte und jaulte durch die Takelage, dass ich meinte in seinem Heulen die Schreie gepeinigter Seelen zu vernehmen. Die Wellen donnerten mit Gewalt gegen den Schiffsrumpf bis dieser sich neigte und es mir fast unmöglich machte, auf den Beinen zu bleiben.

'Ich spiele gern, aber wenn ich spiele, spiele ich aggressiv.' Die Worte des Piratenkönigs geisterten durch mein Hirn und brachten den Puls zum rasen. Auf meinen Handflächen sammelte sich kalter Schweiß. Ich war gefangen in einem Horrorfilm. Das Grauen war nur einen Wimpernschlag entfernt und jederzeit in der Lage, mich zu packen; nur wie und wann es zuschlagen würde, darüber tappte ich völlig im Dunkeln. Nur eins war sicher: Es gab kein Entkommen.

Von beiden Seiten krochen Nebelschleier über die Reling, kamen langsam wie Zombies in zerrissenen Fetzen auf mich zu geschwebt.

Tolle Spezialeffekte. Fehlt nur noch schaurige Musik.

„Mit Musik kann ich nicht dienen, aber das tut es wohl auch." Hongjoong grinste mir vom anderen Ende des Seils entgegen und schnippte mit zwei Fingern in die Luft. Der durchdringende Gong der Glasenuhr erhob sich, als hätte der Wind ihn geformt. Die Gongschläge schienen von überall und nirgends zu kommen und übertönten mit ihrer Kraft mühelos Wind und Wellen.

Mich fröstelte, aber dennoch zählte ich tapfer. Acht Schläge in vier Doppelschlägen. Warum nur hatte ich das System noch nicht begriffen? Es war wie im Matheunterricht mit Herrn Schreier, wenn er die Aufgabe nicht genau erklärte, man auf die Tafel starrte und sich fragte: Was zur Hölle soll ich mit diesen Zahlen jetzt anfangen?

Doch Hongjoong half mir bereitwillig auf die Sprünge: „Das Ticken der Uhr ist die Sprache der Zeit." Er sah mich an, als müsste ich die Lösung nun kennen. „Es ist ganz einfach: Eure Zeit läuft ab."

„Ha! Wie witzig", entgegnete ich bitter. Doch Hongjoong war noch nicht fertig mit seiner Erklärung: „Jetzt ist der Beginn der Morgenwache. Sie endet mit vier Doppelschlägen um 08:00 Uhr. Und dann ..."

„Ja! Schon gut! Ich weiß, was danach geschieht: Um zwei nach Acht wird das Schiff im Meer versinken!" Meine Stimme war ruppig wie der Wind, der in die Segel fuhr. Doch Hongjoong lächelte mild - wie Herr Schreier, wenn ich in Mathe eine Zwei Minus geschafft hatte. Seltsamerweise besänftigte es mich.

Und seine Erklärung half mir tatsächlich: Aus Opas Erzählungen wusste ich, dass die Wachzeiten auf Schiffen immer vier Stunden umfassten.

„Jetzt ist es also vier Uhr", fasste ich, um Sachlichkeit bemüht, zusammen.

Uns blieben vier Stunden.

„Was hat es mit dieser Uhr auf sich? Wo steht sie?" Würde es uns helfen, sie zu zerstören? Meine Gedanken überschlugen sich förmlich, so eilig hatten sie es plötzlich.

Hongjoongs Brauen zogen sich zusammen und er zögerte mit einer Antwort, dann jedoch zuckte er die Schultern. „Finde es heraus! Wenn du die Zeit hast", setzte er grinsend hinzu und reckte das Kinn provozierend nach vorn. „Aber jetzt spielen wir - ich gehe keiner Herausforderung aus dem Weg, schon gar nicht, wenn der Preis hoch ist."

Er schritt voran. Die Nebelschleier bildeten sein Geleit und die samtene Dunkelheit umhüllte ihn wie eine Königsrobe.

Ich wollte nicht mit, doch das gespannte Seil fraß sich in meine Handgelenke wie ein ekelhafter Hakenwurm. Meine Turnschuhe suchten auf den glatten Planken vergeblich festen Halt und die Reling war zu weit entfernt, um mich an ihr festzuklammern.

Widerwillig folgte ich ihm - dem Prinzen der Finsternis, der mich in seiner Gewalt hielt. Er zog mich in die Nacht und ich kämpfte gegen meine Angst, denn er war ein Gegner zum fürchten:

Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt