21. Oktober 2022: Eine Entdeckung

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„Zeit für einen Test!"
Auf Zehenspitzen zog ich ein dickes, in Leder gebundenes Buch aus der Mitte des Regals. Eine Windrose zierte das Cover, ähnlich der auf meinem Anhänger.

„A new Voyage round the world", las ich vor. „Von William Dampier." Ehrfurcht hob meine Stimme, was Hongjoong vom Bett aus mit einem Knurren quittierte. Schnell wandte ich mich um.
„Wie war das? Alles deine Storys?" Es kribbelte mir in den Fingern, das Buch nach ihm zu werfen, hatte er doch schon wieder eiskalt gelogen. Aber die Neugier in meinem Bauch kribbelte noch stärker. „Elender Angeber", murmelte ich und besah den Zufallsfund näher. Das Buch wog gewiss ein Kilo, doch das Leder war angenehm weich.
Da ich dem Piratenkönig nicht den Rücken zuwenden wollte, lehnte ich mich rücklings ans Regal.
So entging mir auch nicht, wie sehr ihm mein Interesse missfiel. Er beobachtete mich mit einem ähnlichen Ausdruck wie Hannah, nachdem sie im Laderaum das Fass mit den Würmern geöffnet hatte. Und in dem Moment, als ich den Buchdeckel aufschlug, erhob er sich abrupt.

Schnell überflog ich das Titelblatt. Eine Art Inhaltsverzeichnis. Die Schrift war spitz und geschwungen; einige Buchstaben hatten eine ungewohnte Schreibweise. Doch zu meiner Freude war es lesbar.

Isles of Cape Verde, Passage by Terra del Fuego, the South Sea Coasts of Chili, Peru and Mexiko, the isle of Guam, Philippine, Cambodia, China, New Holland, Sumatra, Nicobar Isles, the Cape of Good Hope and Santa Hellena.

Eine Aufzählung verschiedenster Länder und Inseln! Und was für eine!

Wie traumhaft musste es sein, all diese Orte zu bereisen! Meine Gedanken wurden geflutet von türkisblauem Meer und sattgrünen Palmen. Ganz ohne, dass der Piratenkönig seine Finger im Spiel hatte.

„Glaub mir; die meiste Zeit war Dampier umgeben von nichts als brackigem Holz, Salzwasser, Stürmen und Ratten." Die nüchterne Stimme neben mir zog mich auf der Stelle in die Kajüte zurück.

Irgendwie erwartete ich, dass er mir das Buch aus der Hand nehmen würde, stattdessen rückte er näher heran und sah an meiner Schulter vorbei auf das verblichene Pergament.

Obwohl Hongjoong mit seinem Einwand sicher Recht hatte, war die Sehnsucht in meiner Brust entfesselt. Und sein Geruch nach Meer und Schießpulver so unmittelbar an mir dran, machte es noch schlimmer. Mein Herz pochte so energisch, dass es unmöglich war, dass er es nicht hörte.

Von der Seite unterzog er mich einem prüfenden Blick. „Genau dieses Fernweh war es, das ihn zur See gezogen hat. Und nicht nur ihn", setze er etwas leiser hinzu.

„Aber warum als Pirat?" Wie konnte sich ein Mensch bewusst dazu entscheiden, andere zu töten? Schon der Gedanke weitete meine Augen vor Entsetzen. Es war für mich so unvorstellbar, dass ich den Kopf drehte, um dem Piratenkönig ins Gesicht zu sehen, in der Hoffnung, dort die Wahrheit zu finden.

Doch Hongjoong lachte nur kehlig. Der warme Luftstrom, den er dabei ausstieß, kitzelte meine Wangen und bescherte mir dennoch eine leichte Gänsehaut. „Warum nicht?" Er hob die Schultern, als könnte das die Leichtigkeit eines solchen Entschlusses untermalen. „Auf den Fregatten und Handelsschiffen herrschte strenger Drill, zudem war jede Überfahrt ein Wagnis auf Leben und Tod. Und der Lohn?" Er rümpfte nur die Nase, dann lehnte er sich so nah zu mir, dass seine Lippen mein Ohr streiften. „Abenteuer. Ruhm. Reichtum. Freiheit." Er raunte die Worte mit so viel Energie, dass sie in meinem Kopf tanzten. Besonders das Letzte. Er rückte ab, gerade so weit, dass er mir in die Augen sehen konnte. „Sag mir, dass du nicht so entschieden hättest!"

Was? Nein! Mit aufsteigender Panik suchte ich einen Ausweg.

Doch so schnell konnte ich mich gar nicht bewegen, da hatte er schon mein Kinn gegriffen und es angehoben. Er sah mir in die Augen oder eher in meine Seele. Er war nicht grob. Im Gegenteil. Seine Finger strichen so sanft über die Haut an meinem Hals, dass ich mir mehr davon wünschte, obwohl das wirklich falsch war. Weder seine Hand noch seine Augen ließen mich gehen.

„Es ist falsch." Was mit Bestimmtheit hätte rauskommen sollen, huschte als Hauch über meine Lippen. Immerhin gelang es mir, ihm mein Kinn zu entziehen. Ich klappte das Buch zu. Das satte Geräuch half, meine Sinne zu ordnen. Ich presste den Wälzer an meine Brust, als könne er mich vor dem Piratenkönig beschützen.

Doch Hongjoong ließ nicht ab. Seine Finger spielten mit einer meiner Haarsträhnen. Er zog sie durch zwei Finger und zwirbelte sie, ohne, dass es ziepte.

„Iliana, kein Tag ist wie der vorherige oder der Folgende. Freiheit sollte die Regel sein und nicht die Ausnahme." Seine Stimme - ein sanftes Locken, das meine Gänsehaut verstärkte. In seinen Augen flammte eine Sehnsucht, die mir verriet, dass ihm das genommen wurde, was ihm am meisten bedeutete.

Freiheit.

Wie fühlte es sich an, an ein Schiff gekettet zu sein, dazu verdammt, jede Nacht vom Meeresgrund aufzusteigen, nur um bei Tagesanbruch wieder in den finstersten Tiefen zu versinken? Über Jahrhunderte hinweg?

Ein Schauer kroch über meinen Körper. Doch wenn Hongjoong etwas von meinen Gedanken mitbekam, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken.

Ein dünnes Lächeln zierte seine Lippen, als er auf meine Brust zeigte, auf die ich noch immer das Buch drückte. „Sein erstes Werk." Er ließ die Strähne los und zog es mit einem schnellen Griff aus meinen Fingern. „Wobei per Anhalter um die Welt ein besserer Titel wäre."

Er schlug es irgendwo in der Mitte auf, las stumm ein oder zwei Sätze und schüttelte verstimmt den Kopf. Die Textstelle interessierte mich, doch ich schaffte es nicht, meine Augen von ihm abzuwenden. Er reizte mich mehr als der Text und auf keinen Fall wollte ich etwas an seiner Reaktion verpassen.
„Wenn du mich fragst, ist es ein Wunder, dass keine der Crews, bei denen er anheuerte, ihm die Kehle aufgeschlitzt hat." Mit einer eindeutigen Geste unterstrich er sein Fazit und donnerte mit der flachen Hand gegen das Bücherregal neben meinem Kopf. Ich zuckte erschrocken zusammen, doch im nächsten Moment beugte er sich so dicht zu mir herab, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten.

„Das Glück in diesen Dingen scheint bei euch in der Familie zu liegen."

In seinen Augen schimmerte ein Abgrund, in dem mühelos ein ganzes Schiff hätte verschwinden können. Meine Seele drohte darin zu versinken, doch am Rand registrierte ich, wie er das Buch hinter seinem Rücken in den Waffengurt steckte.

Ich öffnete den Mund, um ihn zu korrigieren; es war ganz sicher kein Glück, dass er mich auf seinem verfluchten Schiff festhielt. Doch sofort hob er die Hand und ich zuckte bei der unerwarteten Bewegung leicht zusammen. Er schmunzelte und legte sie auf meinen Kopf, strich dabei zärtlich über mein Haar.

„Manche Menschen haben anscheinend mehr Glück als Verstand", murmelte er und sein Blick wanderte hinab zu meinen Lippen. Wäre seine Nähe nicht so atemberaubend einschüchternd und seine Berührungen nicht so unglaublich sanft, hätte ich ihm jetzt gern gegen das Schienbein gekickt. So duckte ich mich blitzschnell unter seiner Hand weg, drehte mich rasch wie der Wind an ihm vorbei und zog in derselben Bewegung das Buch aus seinem Waffengurt.

Denn das war sie; die Entdeckung, die ich gebraucht hatte. Ganz sicher.


Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt