21. Oktober 2022: Blutiges Widersehen

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Blind stolperte ich hinter ihm her. Durch den Tränenschleier sah ich nur Schemen. Das Einzige, das deutlich zu mir drang, waren die zügigen Tritte von Hongjoongs Stiefeln, die die Dielen unheildrohend zum Ächzen brachten.

Die beklemmende Erwartung, was mir drohte, ließ den Schiffsgang immer enger und finsterer werden. Ich fühlte mich regelrecht erdrückt und das lag nicht nur an dem eisernen Griff um meinen Arm.
Schließlich zerrte Hongjoong mich eine schmale Treppe hoch, an deren Ende ich eine einfache Holztür ausmachen konnte. Noch bevor er sie öffnete, hörte ich den Wind davor heulen.

Es geht an Deck.

Eine eiserne Faust umgriff mein Herz und quetschte es zusammen, doch anstatt sich in Stille zu ergeben, hämmerte es umso heftiger.

Er bringt mich zum Meer.

Kaum war die Tür offen, schleuderte er mich von sich.

Für einen Wimpernschlag schwebte ich durch die Luft. Der Wind riss an meinem Pulli und umwirbelte mich von allen Seiten, als wolle er das Unvermeidliche verhindern.

Doch er hatte ebenso wenig Erfolg, mit dem Versuch mich abzufangen, wie ich. Ich schlug mit den Knien auf und schürfte mir obendrein die Handflächen an dem rauen Holz der Schiffsplanken auf.

Es brannte höllisch, doch die Blöße vor Hongjoong zu knien, auch wenn es unfreiwillig war, wollte ich mir keine Sekunde länger geben. Ich verzichtete darauf, den Schaden zu besehen und rappelte mich hoch. Der Ruf einer bekannten Stimme, ließ mich noch in der Bewegung erstarren.

„Iliana!"

Ich rieb mir das schmerzende Knie und sah mich um:

„Noah!"

Die Schrammen waren vergessen und dennoch wäre ich fast sofort wieder auf die Knie gesackt. Meine Beine zitterten, denn sie hielten dem Anblick kaum stand. Die Piraten hatten ihn tatsächlich an den Mast gebunden!

Ein dickes Tau spannte sich viel zu eng um seine Mitte. Mir schnürte es die Luft vom bloßen Hinschauen ab. Das Schrecklichste aber waren die Messer, die überall um ihn herum, teils nur Millimeter von seinen Klamotten oder seiner Haut entfernt, im Holz steckten.
Ich atmete nicht, während mein Blick suchend an ihm herunterwanderte. Auf seiner Wange verlief ein langer blutiger Kratzer und ein Messer klaffte direkt neben seiner Haut so tief im Holz, dass nur noch sein Griff herausragte. Es sah aus, als hätte ihm der Dolch eine Ohrfeige verpasst.

Sein T-Shirt war an fünf Stellen durchbohrt worden. Es spannte sich nun um seine Brust wie Stretchstoff. Seine Jeans war am linken Oberschenkel dunkel verfärbt, glänzte schwarz und nass. Mit Sicherheit klaffte darunter eine blutende Wunde. Das Messer, das gleich daneben im Holz steckte, schmiegte sich viel zu eng an sein Bein - die entscheidenden Millimeter fehlten.
Meine Augen weiteten sich in Entsetzen und füllten sich wie ein Kessel mit Tränen des Schmerzes. Darunter jedoch entfachte die Wut ein Feuer. Ein Feuer, dass zwar nicht großflächig, aber kontrolliert brannte, und sich nicht leicht würde auspusten lassen. Noah war verletzt. Die Piraten hatten ihn tatsächlich zur Zielscheibe gemacht.

„Nein, sie haben nicht auf ihn gezielt, sondern um ihn herum. Das wäre jetzt sonst eine riesige Sauerei hier." Die mir allzuvertraute Stimme war klarer und kälter als die Nacht; zum davonrennen; wie eine eiskalte Dusche.

Hongjoong lehnte an der Reling. Ich blinzelte. Wie war er ...? Wann hat er ...? Er hatte doch eben noch ...?

Erneut hatte er sein Aussehen verändert.

Trotz der kalten Oktobernacht trug er nur eine schwarze Weste über seiner dunklen Hose. Seine helle Haut schimmerte in der Dunkelheit und ließ seine Tattoos beinah greifbar erscheinen. Das Leder verstärkte den harten Kontrast zusätzlich.

Sein Haar war passend dazu schwarz wie der Nachthimmel über unseren Köpfen.
Es fiel ihm in die Stirn und reichte fast bis an die scharf geschnitten Brauen heran. Das Einzige, dass ihn als Piratenkönig auswies, waren seine Stiefel: Sie waren mit schneeweißem Stoff bezogen, der von Silberfäden durchzogen und mit kleinen Perlen besetzt war. Extravagant. Er konnte es nicht lassen.

Sie waren ein Kunstwerk. Genau wie er.

Kurz fragte ich mich, wo der Mond abgeblieben war. Denn vorhin war er noch ...

Egal.

Am liebsten hätte ich mir selbst eine Ohrfeige verpasst. Dafür, dass ich Hongjoong bewunderte, anstatt mit Noah zu leiden. Er war schließlich verletzt und es war allein meine Schuld.

Schnell sah ich zu Noah. Er litt übelste Schmerzen. Senkrechte Falten verschandelten sein attraktives Gesicht, aber seine Augen blickten ungebrochen klar zu mir rüber.

'Es ist nicht deine Schuld' schienen sie mir sagen zu wollen und der feurige Teil in meinem Inneren glaubte es ihnen. Ein anderer jedoch schüttete eimerweise Vorwürfe auf mich herab, die das Feuer fast erstickten. Ohne dich wären die anderen in Sicherheit! Es ist deine Schuld! Du bist nicht wie sie! Du bist nicht normal!

Ich trat einen hilflosen Schritt auf Noah zu. Es musste doch etwas geben, das ich tun kann, nur was?

Du solltest dich entschuldigen und um Vergebung bitten! Die Stimme blieb hart und unerbittlich.

„Da geblieben!" Schon fuhr ich zusammen. Diese Stimme war ebenfalls hart und unerbittlich. Und sie war real.

Hongjoong stieß sich von der Reling ab, rieb sich die Handflächen und kam auf mich zu.

Mit jedem seiner Schritte, schien der Boden unter mir zu beben, aber es war nur meine Angst und Verzweiflung, die sich übertrugen.

Ich rechnete fest damit, dass er mich am Arm packen oder gar an den Haaren mitreißen würde, doch als er vor mir stand, reichte er mir seine Hand.

Mein Kiefer klappte nach unten, als ich in seine leere Handfläche starrte. Er überraschte mich immer wieder. Unsicher sah ich in sein Gesicht. Seine Augen blitzten fröhlich und verursachten in meinem Hirn einen Kurzschluss. Das Räderwerk stoppte, als hätte es vergessen, geschmeidig ineinanderzugreifen.

Stattdessen ergriff ich nun die ausgestreckte Hand des Piratenkönigs.

Doch sofort bereute ich es, denn schon im nächsten Moment schnitt ein raues Seil in meine Handgelenke und schnürte sie so fest zusammen, dass es mir in den Fingerspitzen unangenehm kribbelte. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung hatte er mich gefesselt.

Ich starrte ihn an, wie ein Huhn, wenns donnert. Doch aufflattern und sich verstecken, war keine Option mehr. Zu spät Iliana. Ich war ihm erneut in die Falle gegangen.


Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt